Und auch Sie haben jetzt wohl endlich begriffen, dass hier etwas nicht stimmt?

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Ein Gespräch mit Christiane Neudecker

von Agnes Bidmon

Dass etwas nicht stimmt, zeigt Chris­tia­ne Neu­de­cker in ihrem neu­en Erzäh­lungs­band Das Sia­me­si­sche Kla­vier in sie­ben unheim­li­chen Geschich­ten. Schau ins Blau traf die Autorin und Regis­seu­rin und sprach mit ihr dar­über, was pas­siert, wenn sich in der Rea­li­tät plötz­lich ein Spalt auf­tut und das Ande­re, das Frem­de unver­mit­telt in die Lebens­wirk­lich­keit ein­bricht. Ein Frem­des, das auf die ver­schie­den­ar­tigs­ten Wei­sen unheim­lich, unver­ständ­lich und irra­tio­nal erscheint in einer Welt, in der ver­meint­lich alles logisch erklär­bar ist. Doch auf eine logi­sche Erklä­rung wird man zwi­schen tro­pi­schem Regen­wald und einem idyl­lisch gele­ge­nen Kin­der­fe­ri­en­hof, einer düs­te­ren Free Fight-Are­na und der licht­ver­schmutz­ten Metro­po­le Hong Kong ver­geb­lich hof­fen — und gera­de das macht die Erzäh­lun­gen vor allem eines: unheim­lich lesenswert.

SCHAU INS BLAU: Ihr neu­er Erzäh­lungs­band Das Sia­me­si­sche Kla­vier, der den Unter­ti­tel “Unheim­li­che Geschich­ten” trägt, ver­sam­melt in sei­nen Erzäh­lun­gen unter­schied­lichs­te For­men des Unheim­li­chen, sowohl auf der inhalt­li­chen wie auf der nar­ra­ti­ven Ebe­ne. Was hat Sie dazu bewo­gen, die­ses Gen­re als The­ma Ihres neu­en Buches zu wäh­len und den Blick auf das Phan­tas­ti­sche, Uner­klär­li­che und Beun­ru­hi­gen­de zu richten?

CHRISTIANE NEUDECKER: Die Fas­zi­na­ti­on für mich bestand in dem Ver­such zu ergrün­den, was Rea­li­tät ist. Mich hat schon immer inter­es­siert, was geschieht, wenn sich die wahr­ge­nom­me­ne Wirk­lich­keit ein wenig ver­schiebt und sich plötz­lich ein Spalt auf­tut, eine Dis­kre­panz zwi­schen dem Davor und dem Dahin­ter. Din­ge sind ja meis­tens nichts so, wie sie zunächst schei­nen. Hin­zu kommt, dass mich das spe­zi­el­le Gen­re der unheim­li­chen Span­nung, wie es etwa in den Hitch­cock­fil­men vor­kommt, selbst schon immer fas­zi­niert hat. Daph­ne du Mau­rier wäre da zu nen­nen, oder auch Marie Lui­se Kaschnitz. Die­se Art des Schrei­bens woll­te ich auf einen neu­en Level der Aktua­li­tät heben.

SCHAU INS BLAU: Die Gegen­wart, inner­halb derer sich die­se unheim­li­chen Geschich­ten zutra­gen, ist ja auch inner­halb Ihres Tex­tes ganz expli­zit geprägt von aktu­el­len Kon­tex­ten wie Glo­ba­li­sie­rung, Media­li­sie­rung und zuneh­men­der Tech­ni­sie­rung. Haben Sie für die Ver­ar­bei­tung die­ser The­men­kom­ple­xe bewusst auf ein uraltes Erzähl­mus­ter in der Art von “Schau­er­ge­schich­ten” zurück­ge­grif­fen, um der zeit­ge­nös­si­schen Lebens­welt etwas ent­ge­gen­zu­set­zen, sie zu bre­chen und die Dis­kur­se der ver­meint­lich ratio­na­lis­ti­schen Lebens­wirk­lich­keit nicht nur auf der Inhalts­ebe­ne, son­dern schon vom Erzähl­mo­dus her zu unterlaufen?

CHRISTIANE NEUDECKER: Ja, die­se Über­le­gung hat eine Rol­le gespielt und war sehr reiz­voll für mich. Es ist ein Trug­schluss zu den­ken, heu­te wäre die Welt durch­leuch­tet. Die­ser Glau­be an die Bere­chen­bar­keit der Wirk­lich­keit, die­se schein­ba­re Kon­trol­lier­bar­keit der Welt, ist ja ein Irr­glau­be. Ich woll­te daher sehen, was das Unheim­li­che heu­te ist und sein kann, wel­che For­men es anneh­men kann. Mein schrift­stel­le­ri­scher Motor war also die Fra­ge, was das Unheim­li­che in der Neu­zeit sein kann, was eben heut­zu­ta­ge z.B. ein gefal­le­ner Engel oder ein Erl­kö­nig ist. Auch der Trans­fer des Schle­mihl-Motivs in die Gegen­wart war span­nend. In der Erzäh­lung von Cha­mis­so merkt jeder sofort beim zwei­ten Schritt Schle­mihls, dass er kei­nen Schat­ten mehr besitzt, weil er einen Pakt mit dem Teu­fel geschlos­sen hat, und mei­det ihn. Aber was pas­siert mit die­sem Motiv heu­te, was pas­siert, wenn jemand heu­te ohne Schat­ten durch eine licht­ver­seuch­te Metro­po­le wie Hong Kong läuft? Das wür­de nie­man­dem auffallen.

SCHAU INS BLAU: Zudem arbei­ten Sie sich mit die­sem Band an einer lan­gen Erzähl­tra­di­ti­on ab, in die Sie der Ver­lag auch expli­zit ein­reiht: das roman­ti­sche Erzäh­len, das sei­nen Fokus auch auf die Nacht- und Schat­ten­sei­ten des mensch­li­chen Daseins rich­tet, das einen Blick für die melan­cho­li­schen, uner­klär­li­chen und düs­te­ren Sei­ten des Sub­jekts ent­wi­ckelt. Ein Erzäh­len, dass das Indi­vi­du­um erst­mals in sei­ner Sub­jek­ti­vi­tät wahr­nimmt und ihm eine indi­vi­du­el­le Per­spek­ti­ve zuge­steht. Aber auch wei­te­re roman­ti­sche Topoi wie z. B. das span­nungs­vol­le Ver­hält­nis von Mensch und Natur wer­den in den Epi­so­den immer wie­der auf­ge­grif­fen. Kann man die Erzäh­lun­gen also als eine bewuss­te Wei­ter­füh­rung der roman­ti­schen Erzähl­tra­di­ti­on in der Gegen­wart lesen?

CHRISTIANE NEUDECKER: Das ist eine schwie­ri­ge Fra­ge. Ich kom­me ja vom Thea­ter her, aber anders als beim Regie­füh­ren, bei dem man eine ganz bewuss­te Les­art eines meist schon hun­dert­fach insze­nier­ten Tex­tes wählt, geschieht das Schrei­ben weni­ger mit küh­lem Kopf. Ich schrei­be aus dem Bauch her­aus, stel­le mich ganz in den Dienst der Geschich­te, die ich erzäh­len möch­te. Die Ana­ly­se der womög­lich über­lap­pen­den Moti­ve über­las­se ich dann lie­ber dem Rezi­pi­en­ten — wenn er es denn möchte.

SCHAU INS BLAU: Die Tra­di­ti­on des roman­ti­schen Erzäh­lens ist in die­sem Kon­text des­halb inter­es­sant, weil sie sich mit ihrer Hin­wen­dung zum Sub­jekt und Sub­jek­ti­ven mit all sei­ner Zer­ris­sen­heit und Irra­tio­na­li­tät ja unter ande­rem auch gegen das Ver­nunft­pos­tu­lat der Auf­klä­rung gerich­tet hat. Somit wäre zu über­le­gen, ob die­se Hin­wen­dung zum Irra­tio­na­len, Nicht-Erklär­ba­ren in der Gegen­wart eine Fort­füh­rung die­ses Kon­zepts in einer post­auf­klä­re­ri­schen Zeit ist, in der die Maxi­me der mensch­li­chen Ver­nunft als hand­lungs­lei­ten­de Instanz — im phi­lo­so­phi­schen und ästhe­ti­schen Dis­kurs — bereits ver­ab­schie­det ist und ins Lee­re läuft.

CHRISTIANE NEUDECKER: Ich habe tat­säch­lich kein all­zu hohes Ver­trau­en in die mensch­li­che Ver­nunft. In einer Welt, die von Kriegs­füh­rung, Amok­läu­fen, Fol­ter, Ter­ro­ris­mus und Armut geprägt ist, muss man die Maxi­me des “sape­re aude” wohl als geschei­tert betrach­ten. Wenn man sich etwa ein so scho­ckie­ren­des Kriegs-Doku­ment, wie es soeben von wiki­leaks (http://www.wikileaks.org/) ver­öf­fent­licht wur­de, ansieht, ist der Glau­be an mensch­li­che Ver­nunft, bzw. an Mensch­lich­keit über­haupt, nur noch ein zer­rüt­te­ter Trüm­mer­hau­fen. Schon mög­lich, dass also das Irra­tio­na­le aus die­sem Grund wie­der eine grö­ße­re Rol­le spielt.

SCHAU INS BLAU: Ist das phan­tas­ti­sche Erzäh­len somit ein ästhe­ti­sches Gegen­ge­wicht zu einer ‘Ent­zau­be­rung der Welt’, die in den all­täg­li­chen und von ver­meint­li­cher Logik gepräg­ten Dis­kur­sen erkenn­bar ist? Die­ses Phä­no­men ist ja auch inner­halb der Geschich­ten aus­zu­ma­chen, wenn die Figu­ren immer wie­der z.B. um psy­cho­lo­gi­sche oder medi­zi­ni­sche Erklä­run­gen für das Erleb­te rin­gen, die dann aber ins Lee­re lau­fen oder zumin­dest pro­ble­ma­tisch sind und unein­deu­tig blei­ben, da sie immer auch ande­re Mög­lich­kei­ten zulas­sen, was pas­siert sein könnte.

CHRISTIANE NEUDECKER: Der Mensch trägt eine Sehn­sucht nach Erklär­bar­keit in sich. Das Unheim­li­che hin­ge­gen bleibt immer uner­klär­bar — und gera­de das ist das Auf­stö­ren­de. Auch der Leser wird also immer ver­su­chen, in den Tex­ten eine ratio­na­le Erklä­rung zu fin­den. Und teil­wei­se bie­te ich die auch an. So könn­ten die Erleb­nis­se, die in der Erzäh­lung des Free Figh­ters geschil­dert wer­den, auf ein Gehirn­trau­ma zurück­ge­hen oder der Erl­kö­nig­jä­ger kann wirk­lich von einem Indus­trie­kon­zern aus dem Weg geräumt wor­den sein. Aber der Leser wird sich nie sicher sein. Es ging mir letzt­lich dar­um, unter­schied­li­che Ant­wort­mög­lich­kei­ten anzu­deu­ten und ver­schie­de­ne Les­ar­ten zu ermöglichen.

SCHAU INS BLAU: Stel­len die Erzäh­lun­gen somit eine Form der “Arbeit am Mythos” dar? Ins­be­son­de­re wenn man an die Geschich­te “Dun­kel­kei­me” denkt, die ja eine unheim­li­che Spiel­form der Meta­mor­pho­sen Ovids sein könn­te. Die nie­mals enden­de Arbeit am Mythos wäre dann, kein ver­meint­li­ches Erklä­rungs­mus­ter für die Leer­stel­le mehr anzu­bie­ten, wie es das Nar­ra­tiv des Mythos ja tra­di­tio­nell ver­sucht, son­dern das Unver­ständ­li­che als sol­ches zu belas­sen und sogar noch zu poten­zie­ren, indem meh­re­re kon­kur­rie­ren­de Erklä­rungs­mo­del­le neben­ein­an­der im Text ste­hen und ins Lee­re laufen.

CHRISTIANE NEUDECKER: Man hat als Autor ja immer den Anspruch, etwas Eige­nes zu schaf­fen, auch wenn man lite­ra­ri­sche Moti­ve mit einer gro­ßen Tra­di­ti­on bear­bei­tet. Das Span­nen­de dabei ist ja, sich zu fra­gen, wie man ein Motiv des Schat­ten­sver­lusts oder eines Teu­fels­pakts ins Heu­te trans­po­nie­ren kann. Ein biss­chen grö­ßen­wahn­sin­nig muss man dazu wahr­schein­lich schon sein… (lacht)

SCHAU INS BLAU: Die Kate­go­rien, die die Beschrei­bungs­grund­la­ge von Welt zur Ver­fü­gung stel­len und eine Ein­tei­lung in wahr und falsch, Rea­li­tät und Fik­ti­on ermög­li­chen und somit eigent­lich Garant des Ver­ste­hens sind, sind inner­halb der Erzäh­lun­gen ja außer Kraft gesetzt oder wer­den zumin­dest in Fra­ge gestellt. Ist die­se Form des Erzäh­lens eine Mög­lich­keit, sich inner­halb des lite­ra­ri­schen Tex­tes dem Umgang mit Welt auf eine dif­fe­ren­zier­te­re Wei­se anzu­nä­hern, indem sich die­ses Erzäh­len bewusst einer Her­me­neu­tik ent­zieht, also der Dok­trin und Mög­lich­keit des Ver­ste­hens eine Absa­ge erteilt und so das Unver­steh­ba­re, Uner­klär­li­che und Irra­tio­na­le inner­halb des Tex­tes als Frem­des belässt und ihm sei­ne Anders­heit zugesteht?

CHRISTIANE NEUDECKER: Wie gesagt: ich hal­te die Welt durch­aus nicht für “durch­er­klärt” — auch wenn sie ger­ne so wahr­ge­nom­men wird. Daher inter­es­siert mich das Kalei­do­skop des Mög­li­chen. Mei­ne “Unheim­li­chen Geschich­ten” zei­gen die unter­schied­lichs­ten, sich teil­wei­se wider­spre­chen­den Ver­sio­nen von Wahr­heit auf. Wer genau liest, wird in jeder Geschich­te mei­ne per­sön­lich favo­ri­sier­te Rea­li­tät erken­nen. Aber die unter­schied­li­chen Les­ar­ten und Per­spek­ti­ven der Leser sind mir natür­lich nur will­kom­men, denn es gibt ja nie nur eine ein­zi­ge Wahr­heit. Vie­les ist per­spek­ti­visch, und wenn jemand eine ande­re Per­spek­ti­ve auf den­sel­ben Sach­ver­halt hat, wird am Ende eine ande­re Wahr­heit daste­hen. Auch bei sich selbst kann man das beob­ach­ten: etwas, das man heu­te erlebt hat und als Wahr­heit erzählt, kann man mor­gen schon ganz anders erin­nern und somit eine ande­re Ver­si­on die­ser Wahr­heit kom­mu­ni­zie­ren, die aber auf den­sel­ben Sach­ver­halt Bezug nimmt.

SCHAU INS BLAU: Auch der Leser wird ja immer wie­der in die­se unheim­li­che Atmo­sphä­re mit hin­ein­ge­nom­men und förm­lich ein­ge­spon­nen, indem ihm die Beur­tei­lung, ob es sich bei den dar­ge­stell­ten Ereig­nis­sen um tat­säch­lich statt­ge­fun­de­ne oder nur ima­gi­nier­te han­delt, unmög­lich gemacht wird. Das Schlüs­si­ge und Unschlüs­si­ge wer­den somit in der Schwe­be gehal­ten und dem Leser die Bedeu­tungs­zu­schrei­bung und Deu­tungs­ho­heit über das Ver­ste­hen ent­zo­gen. Geht mit die­ser Demon­ta­ge einer siche­ren Posi­ti­on und der damit ver­bun­de­nen Desta­bi­li­sie­rung der eige­nen Wahr­neh­mung auch die Beschrei­bung eines Ver­trau­ens­ver­lus­tes ein­her, der eine Fol­ge der viel beschwo­re­nen Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit ange­sichts der kom­ple­xen und aus­dif­fe­ren­zier­ten Lebens­welt ist?

CHRISTIANE NEUDECKER: Sicher­heit ist ja ohne­hin immer ein Trug­schluss, und die­se Grund­hal­tung spie­gelt sich auch in den Erzäh­lun­gen und Erzähl­stim­men wider. Der Erzäh­ler der ers­ten Geschich­te spricht die­se Leser­war­nung vor einer ver­meint­li­chen Sicher­heit ja auch selbst aus, wenn er kon­sta­tiert: “Man kann nie­man­dem mehr trau­en”. Sol­che Aus­sa­gen tref­fen zu kön­nen, gepaart mit dem per­ma­nen­ten Höher­schrau­ben der Phan­ta­sien der Figu­ren, machen mir als Autorin Spaß und bie­ten immer neue Mög­lich­kei­ten. Es wäre daher z.B. auch sehr span­nend, die­se sehr mono­lo­gisch gehal­te­ne Erzäh­lung auf dem Thea­ter umge­setzt zu sehen. Sie bie­tet einem Schau­spie­ler viel Futter.

SCHAU INS BLAU: Ins­be­son­de­re die Titel­ge­schich­te, die Sie gera­de erwähnt haben, stellt sich ja ohne­hin als eine gera­de­zu pro­gram­ma­ti­sche Erzäh­lung für den gesam­ten Band dar. Nicht nur, weil sie an pro­mi­nen­ter Stel­le steht und dem Buch den Titel gibt, son­dern auch, weil gera­de in die­ser dort ein­ge­nom­me­nen Hal­tung der per­ma­nen­ten Ver­un­si­che­rung das Erzähl­pro­gramm der Unheim­li­chen Geschich­ten bereits ange­deu­tet zu sein scheint: wie­der­keh­ren­de Moti­ve wie die radi­ka­le, unzu­ver­läs­si­ge Sub­jek­ti­vi­tät der Per­spek­ti­ve einer Per­son, die Ver­qui­ckung von ver­meint­lich rea­lis­ti­schen und phan­tas­ti­schen Ele­men­ten, denen jeg­li­ches Refe­renz­sys­tem in der wahr­nehm­ba­ren Lebens­welt fehlt oder die Unzu­ver­läs­sig­keit der Erzählinstanz.

CHRISTIANE NEUDECKER: Als Autorin besit­ze ich glück­li­cher­wei­se die Frei­heit, sol­che Erzähl­pro­gram­me auf­stel­len und die­se dann gleich wie­der unter­wan­dern zu kön­nen. Es macht Spaß, die Leser­er­war­tun­gen immer wie­der erschüt­tern zu kön­nen. So kann in einer Erzäh­lung eine Erwar­tung auf­ge­baut wer­den, die dann in der nächs­ten wie­der ein­ge­ris­sen wird. Es ist also ein Spiel mit der per­ma­nen­ten Selbst­bre­chung, selbst das Unsi­che­re bleibt dadurch unsi­cher, es kann sich plötz­lich in Sicher­heit verkehren.

SCHAU INS BLAU: Stel­len die Erzäh­lun­gen in die­sem Band somit die ‘Les­bar­keit der Welt’ durch den Men­schen in Fra­ge? In dem Sinn, dass die Geschich­ten ver­su­chen, die Gren­zen des mensch­li­chen Ver­ste­hens aus­zu­lo­ten, die sich letzt­lich in den Gren­zen der Bezei­chen­bar­keit der Welt durch Spra­che mani­fes­tie­ren. Lie­gen die­se Gren­zen also in der zuneh­men­den Unun­ter­scheid­bar­keit zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on, die sich der Beschreib­bar­keit ent­zieht, weil die Rea­li­tät selbst eine Simu­la­ti­on ist, oder im Medi­um der mensch­li­chen Spra­che, das nur einen defi­zi­tä­ren Modus der Dar­stel­lung zulässt, weil die Welt über das kul­tu­rell vor­ge­ge­be­ne Code-Sys­tem hinausweist?

CHRISTIANE NEUDECKER: An die­ser Stel­le muss ich als Schrift­stel­le­rin die Spra­che als sol­che ver­tei­di­gen, denn sie kann viel, sehr viel, obwohl sie ein ana­chro­nis­ti­sches Medi­um ist und eine gewis­se Dop­pel­zün­gig­keit besitzt. Ich glau­be an die Macht der Wor­te. Aber es stimmt natür­lich: allein durch die Umset­zung von z.B. Gefüh­len in Spra­che gehen vie­le Din­ge ver­lo­ren. Oft kann man sich Phä­no­me­nen durch sprach­li­che Aus­drucks­form nur annähern.

SCHAU INS BLAU: Das Ver­trau­en in die Kom­mu­ni­ka­ti­on wird aber spä­tes­tens dann wie­der grund­le­gend erschüt­tert, wenn sich die­se nicht mehr unmit­tel­bar voll­zieht, son­dern wei­te­re Medi­en ins Spiel kom­men wie das Han­dy oder Inter­net. Ist die­ser mul­ti­me­dia­le Aus­tausch mit einem anwe­sen­den Abwe­sen­den das eigent­lich unheim­li­che Ele­ment, das ja auch in den bei­den Geschich­ten “Dun­kel­kei­me” oder “J’a­dou­be” eine ent­schei­den­de Rol­le spielt?

CHRISTIANE NEUDECKER: Zwi­schen­ge­schal­te­te Medi­en ber­gen natür­lich immer ein Ver­fäl­schungs­ri­si­ko in sich. Wir haben aller­dings — ich ein­ge­schlos­sen — ein so hohes Ver­trau­en in die­se Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men ent­wi­ckelt, dass wir das häu­fig ver­ges­sen. Die­se Schein­si­cher­heit auf­zu­zei­gen und mit der ihr eigent­lich zugrun­de lie­gen­den Anony­mi­tät zu spie­len, war mir ein gro­ßes Anlie­gen. Denn das direk­te, rea­le Gespräch zwi­schen zwei Men­schen hal­te ich auch heu­te noch für unersetzbar.

SCHAU INS BLAU: Bei eini­gen Erzäh­lun­gen wird ja auch ein span­nungs­vol­les Wech­sel­ver­hält­nis von Meta­phy­sik und Kon­tin­genz erzeugt, wenn man z.B. an den “Car­pen­ter-Effekt” oder auch die Erzäh­lung “J’a­dou­be” denkt. Sowohl eine ungreif­ba­re, von irgend­wo­her kom­men­de Ord­nung der Welt wie auch das abso­lu­te Prin­zip des Zufalls kön­nen also der Motor für die Gescheh­nis­se sein?

CHRISTIANE NEUDECKER: Ich füh­le mich ein biss­chen unwohl dabei, die Geschich­ten so ana­ly­tisch zu betrach­ten. Denn letzt­end­lich steht ja die Erzäh­lung als sol­che im Vor­der­grund, die Figu­ren und deren Kon­flikt, der Kos­mos, in den der Leser hin­ein geso­gen wird. Aber: ja — man­che Gescheh­nis­se sind schein­ba­re Ket­ten­re­ak­tio­nen, ande­re sind so nicht vor­her­seh­bar. Ganz wie im wirk­li­chen Leben.

SCHAU INS BLAU: Trägt die Ein­sicht in die Mani­pu­lier­bar­keit der Wahr­neh­mung und die Gren­zen der mensch­li­chen Sin­nes­ein­drü­cke, mit denen die Figu­ren immer wie­der kon­fron­tiert wer­den, auch zu einer Auf­lö­sung der Iden­ti­tät bei, mit­hil­fe derer man sich ja gene­rell in der Welt zu ver­an­kern und ver­or­ten ver­sucht? Immer­hin wird die Fra­ge der Iden­ti­tät ja immer wie­der auf­ge­wor­fen, sie es anhand der Geschlechts­iden­ti­tät, der Iden­ti­täts­lo­sig­keit, die sich in der geis­ter­haf­ten Trans­pa­renz der Erschei­nung äußert bis hin zur dro­hen­den Auf­lö­sung jeg­li­cher Identität.

CHRISTIANE NEUDECKER: Das Selbst­bild des Men­schen ist ja fik­tiv, so gefes­tigt es auf den ers­ten Blick auch erschei­nen mag. Jedes “Ich” gerät, wenn es mit Unvor­her­seh­ba­rem kon­fron­tiert wird, ins Wan­ken, neue Sei­ten zei­gen sich — der eige­ne Cha­rak­ter ent­puppt sich als dehn­ba­rer Begriff. Die­ses Rüt­teln an mensch­li­chen Selbst­bil­dern hat mich gereizt. Der Soft­ware­künst­ler bei­spiels­wei­se erscheint anfangs als gott­glei­cher Tech­ni­ker, der Din­ge schaf­fen und ver­än­dern kann, wie es ihm beliebt. Aber sobald er sei­nen Schat­ten ver­liert, wird er macht­los, und die­se Situa­ti­on wird dann zu einer span­nen­den Grund­kon­stel­la­ti­on die­ser Geschichte.

SCHAU INS BLAU: Ist eine Erzäh­lung wie die des Free Figh­ters dann ein Ver­such, die­ser flüch­ti­gen Iden­ti­tät ent­ge­gen­zu­wir­ken, indem sich inner­halb des Kampf­ge­sche­hens der phy­si­schen Mate­ria­li­tät des Kör­pers ver­ge­wis­sert wird?

CHRISTIANE NEUDECKER: Ja. Auch hier war wie­der der Gedan­ke des Kalei­do­skops ent­schei­dend, der sich in der Anord­nung der Geschich­ten aus­drückt. Das Unheim­li­che erscheint in den unter­schied­lichs­ten For­men: Im “Car­pen­ter-Effekt”, der der Free­fight-Geschich­te vor­aus­geht, wer­den die Mäd­chen immer durch­schei­nen­der, sie schwe­ben nahe­zu über dem Boden. Des­halb war im Anschluss eine Figur wich­tig, die geer­det ist, die mit bei­den Bei­nen fest auf dem Boden steht, dem Bret­ter­bo­den des Rings. Doch auch so jemand kann mit dem unheim­li­chen Ele­ment kon­fron­tiert wer­den. Ein star­kes Kör­per­be­wusst­sein schützt nicht vor geis­ti­ger Erschütterung.

SCHAU INS BLAU: Lie­be Chris­tia­ne Neu­de­cker, wir dan­ken Ihnen sehr herz­lich für die­ses Gespräch!

Chris­tia­ne Neu­de­cker, geb. 1974, stu­dier­te Thea­ter­re­gie an der “Hoch­schu­le für Schau­spiel­kunst Ernst Busch” in Ber­lin. Sie ist Regis­seu­rin beim Ber­li­ner Künst­ler­netz­werk phase7 performing.arts (www.phase7.de). 2005 erschien ihr begeis­tert auf­ge­nom­me­nes Erzähl­de­büt “In der Stil­le ein Klang”, 2008 ihr ers­ter Roman “Nir­gend­wo sonst“, für den sie den August-Graf-von-Pla­ten-För­der­preis und den För­der­preis für Kunst und Wis­sen­schaft der Stadt Nürn­berg erhielt. Neu­de­cker hat für ihr Schrei­ben zahl­rei­che wei­te­re Aus­zeich­nun­gen erhal­ten, u.a. den Wolf­ram-von-Eschen­bach-För­der­preis, den Alfred-Gess­wein-Preis und das Arbeits­sti­pen­di­um des Deut­schen Lite­ra­tur­fonds 2009. 2010 erschien “Das sia­me­si­sche Kla­vier” und 2013 der Roman “Boxen­stopp”.