von Hannes Müller
Das kleine rheinland-pfälzische Kurstädtchen Bad Ems an der Lahn hatte es im 19. Jahrhundert zu beachtlicher Popularität gebracht. Regelmäßig besuchten Gäste hohen Ranges das staatlich anerkannte Heilbad, um sich in den heißen Quellen der Provinz von den Strapazen der Weltbühnen zu erholen. Die Gästeliste liest sich heutzutage wie ein Geschichtsbuch: König Wilhelm I., König Ludwig I., Zar Alexander II., Kaiser Friedrich III., Fjodor Dosto-jewskij, Richard Wagner, Paul Heyse und Victor Hugo – um nur einige der bekannteren Besucher zu nennen – sie alle schätzen das kleine Örtchen.
Kurz vor seinem 70. Geburtstag wendet sich der sonst so distanzierte, verschlossene und eher zugeknöpfte Autor Botho Strauß seiner Heimatstadt zu. Es ist nicht das schillernde internationale Bad Ems des 19. Jahrhunderts, sondern die unprätentiöse unaufgeregte Kleinstadt seiner Kindheit und Jugend in Nachkriegsdeutschland. In Bad Ems haderte Strauß mit sich, seiner Identität, seiner Pubertät, seinen Eltern und besonders mit seinem Vater. Er haderte mit der Rückwärtsgewandtheit des Vaters, der als letzter Bourgeois einem veralteten Bürgertumsideal nachhing, das Strauß zuweilen beschämte. Dieser Vater spielt in Strauß’ dichtem, poetisch-anspruchsvollem Buch die Hauptrolle. Als vierundzwanzigjähriger Soldat verliert er, Eduard Strauß, auf einem Schlachtfeld des I. Weltkriegs ein Auge. Dabei hatte er Glück im Unglück, denn es war eine Gewehrkugel die ihn in die Stirn traf. Als Invalider entgeht er der Front des II. Weltkriegs, erlebt die Gründung der DDR und erfährt Repressalien, eine Gefängnisstrafe und die Enteignung seines eigenen pharmazeutischen Unternehmens. Im Alter von sechzig Jahren bricht Eduard Strauß mit seiner Familie aus Naumburg an der Saale auf, um in Bad Ems von vorne zu beginnen. Die Geschichte des Vaters bildet die Hintergrundfolie von Strauß‘ Erzählung und tritt immer wieder — mal mehr, mal weniger offensichtlich — aus dem Text hervor.
Botho Strauß meint, neben der Suche nach seiner Herkunft, sicherlich auch diese Spurensuche im Leben des Vaters, wenn er sein Buch „Herkunft“ nennt. Als kluger und reflektierter Spurensucher fragt er nicht nur nach seiner eigenen Herkunft, sondern auch explizit nach der Herkunft dessen, der ihn geprägt hatte. Diese Einsicht ist alles andere als trivial, entwickelt der Autor doch erst durch die Auseinandersetzung mit dem Vater und dessen Leitbildern — exemplarisch sei hier Thomas Mann genannt — eine eigenständige Weltsicht. Gleichzeitig trägt Strauß das Erbe des Vaters in sich – „wiederholt“ förmlich das Leben des Vaters. Das Strauß diese Perspektive verinnerlicht hat wird in zahlreichen Absätzen deutlich, so u.a. auch wenn er aus Grillparzers „Libussa“ zitiert:
„Der Vater lebt, ein Lebender, in
mir/Solange ich atme, lebt auch sein
Gedächtnis.“ (S. 59)
„Herkunft“ ist darüber hinaus eine gelungene Analyse des Erinnerns. Der Beweggrund für Strauß’ Betrachtung seiner Kindheit und Jugend ist der Umzug der Mutter in ein Altenheim und die damit einhergehende Auflösung des elterlichen Wohnhauses im April 1990. Schon 19 Jahre zuvor verstarb der Vater, an dessen Tod der Sohn eilig vorbeischritt. So gesteht Strauß, dass er „erst langsam“ in den Tod des Vaters und den „umfassenden Sinn für Vermissen“ „hineinwachsen“ musste. Das Herkunftsbuch kann wohl als Resümee dieses „Hineinwachsens“ betrachtet werden.
Die wohl entscheidendste Passage seiner Identitätssuche beschreibt den Aspekt der Transkulturalität, d.h. das bewusste Überschreiten kultureller Grenzen, wodurch etwas Drittes entsteht, besser als es jedes theoretische Konzept vergegenwärtigen könnte. Strauß gibt sich darin als „Mischwesen“ zu erkennen, das nicht innerhalb einer abgeschlossenen deutschen „Kulturkugel“ geprägt wurde, sondern seine Identität durch zahlreiche Einflüsse gewann. Dabei bewegen sich diese Einflüsse irgendwo zwischen Nordamerika und Europa, zwischen Hochkultur (Wagner) und Populärkultur (James Dean) und zwischen Mythen (der Cherubinische Wandersmann) und Philosophien (Kants Kritik der Urteilskraft). Es sind dichte Formulierungen wie die Folgende, die Leserinnen und Leser immer wieder zum Wiederlesen einladen:
„Ich bin Deutscher: aufgewachsen mit
Grimms Märchen und Elvis Presley, Karl
May und General Eisenhower, Wagner und
James Dean. Woher soll ich meinen
Realismus nehmen? […] Ich habe aber
die Nibelungen in mir, auch den
Cherubinischen Wandersmann. Neben
Zorros schwarzer Peitsche liegt die
Kritik der Urteilskraft. Nichts aus
einem Guß dort, woher ich komme.“ (S.
66)
Ein kleines, relativ schmales Büchlein kann große, ja großartige Literatur sein. Das wird in Botho Strauß’ Herkunftsbuch an zahlreichen Stellen sichtbar. Dabei schreckt der Autor nicht davor zurück, sich bis auf die nackte Haut auszuziehen. Es ist ein ehrliches, geradezu feinfühliges Buch, das vor allem die Leser verblüffen wird, die Strauß’ literarisches Schaffen schon eine Weile beobachtet haben. Strauß’ Buch endet mit den Worten: „Morgen wird die Wohnung entrümpelt. Morgen wird mein Zuhause aufgelöst“. Es mag nicht überraschen, wenn Strauß in seinem doppelbödigen Text auch die letzten Sätze in diesem Zustand der Mehrdeutigkeit belässt, denn ob er nun von der Wohnung seiner Eltern oder von seinem eigenen Erinnern spricht, bleibt offen. Einiges spricht für das Erinnern, denn nur in der Schutz- und Hilflosigkeit des rückwärtigen Blicks wird das Wesentliche des Menschen berührt — seine Identität. In diesem Sinne ist Strauß’ Herkunftsbuch eine dichte Beschreibung und Auseinandersetzung mit der Heimat, der Zugehörigkeit und dem Erinnern. Da diese drei nicht für sich abgelöst und in luftleerem Raum behandelt werden können, kann Strauß nur davon sprechen indem er von seinem Vater spricht.
Botho Strauß: Herkunft
Carl Hanser Verlag
München 2014
96 Seiten