Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Sten Nadolny
von Vera Podskalsky, Ulrike Epple, Lisa-Marie Sauerbrey, Leonie Seng
In einem Erlanger Café, in der frühsommerlichen Nachmittagssonne, erzählt Sten Nadolny vergnügt von dem Unterschied zwischen Literatur und Journalismus; er erzählt, warum er seine Bücher nur einmal schreiben kann und dass er seine Texte am liebsten selbst vorliest. Schließlich verrät Nadolny auch seine Lieblingsbeschäftigung: den Teufel spielen.
SCHAU INS BLAU: Was hat es mit den guten Absichten auf sich?
STEN NADOLNY: Die Studentenbewegung 1968 zeichnete sich ja dadurch aus, dass alles unbedingt immer entweder sozial relevant oder engagiert oder wichtig oder sozial bewusst sein musste – ein Anspruch mit dem man ja noch nicht einmal ein Frühlingsgedicht schreiben kann. Dadurch sah ich meine Unabhängigkeit in Gefahr.
Ich wollte lieber ein Themen neu entdecken, geradezu erfinden, von deren Wichtigkeit noch kein Mensch überzeugt ist und von deren Wichtigkeit niemand etwas weiß. Und deswegen wollte ich unabhängig sein von diesem Zwang zur engagierten Literatur im Sinne „Du musst gegen das Regime Soundso sein.“ oder „Du musst immer gegen ein Unrecht anschreiben und für eine bessere Welt schreiben.“ Das wollte ich erst einmal zurückweisen, um mich dann – gegebenenfalls hinter meinem eigenen Rücken – doch mit solchen Themen zu beschäftigen.
Das sehe ich heute auch nicht wesentlich anders, aber ich würde heute manche apodiktischen Sätze etwas mildern.
SCHAU INS BLAU: Besteht in dem Verlust der Unabhängigkeit auch eine Gefahr der guten Absichten?
STEN NADOLNY: Die Gefahr besteht darin, dass man das völlig Einzigartige aus dem Auge verliert und ein Schema zu erstellen versucht. Auch die Menschen werden dann schematisch betrachtet: „Alle Leute die kein Geld haben, sind gut, alle Leute, die reich sind, sind schlecht. Die Arbeiter sind von Haus aus gut und ehrlich und naiv, nur weil die Betrogenen ja immer die Ehrlichen und Naiven sind.“ und so weiter. Da gerät man dann gern in eine Plakatmalerei hinein. Ich glaube gar nicht, dass ich in der Gefahr gewesen wäre, das zu tun. Aber ich spürte den eigentlich unhörbaren Vorwurf anderer: Du beschäftigst Dich mit irgendwelchen elitären oder esoterischen Geschichten wie der Langsamkeit, das den Arbeiter nicht interessiert. Und ich wollte mich vor dieser Gefahr schützen, vor der ich vielleicht gar nicht so furchtbar geschützt werden musste, weil ich natürlich als Schriftsteller eh das mache, was ich will.
SCHAU INS BLAU: Muss man sich als Autor also auch vor Stigmatisierungen schützen?
STEN NADOLNY: Eigentlich habe ich den Vorwurf nicht gehört, sondern die Front, die ich aufbaute ergab sich aus dem, was ich gelesen habe, sowohl an Büchern als auch an Rezensionen. Da wurden Leute dafür gelobt, dass sie endlich mal ein relevantes, wichtiges, soziales Thema angreifen und dann waren die Bücher aber gar nicht gut. Das heißt, es gibt so eine Art, nicht gute Literatur damit zu entschuldigen, dass sie aber immerhin heiße Eisen anpackt. Aber da sind wir dann ganz schnell irgendwo, wo ich nicht sein mag. Dieser Hintergrund ließ mich einfach annehmen, dass da eine Gefahr sein muss. Ich kann das auch aus persönlichem Erlebnis sagen, dass Leute, die sich selbst als Schriftsteller nicht so richtig ernst nahmen, sich darauf verlegt haben, zu den Brennpunkten dieser Welt zu eilen und durchaus verdienstvoll berichten, was sie dort vorfanden. Aber das ist Literatur nicht allein, man sollte diese Literatur nicht auf den höchsten Rang heben, sondern Naturlyrik gehört auch dazu – die schreibe ich aber, nebenbei bemerkt, auch nicht.
SCHAU INS BLAU: Heißt das, dass Journalismus und Literatur stärker getrennt werden sollte?
STEN NADOLNY: Ja, darauf läuft es sicher auch hinaus. Die noch so gute Reportage kann nicht das ersetzen, was Literatur können muss: Konjunktivisch arbeiten, verrückt sein, Dinge zur Regel erheben, die es gar nicht gibt und da alles von den Füßen auf den Kopf zu stellen – das Durcheinanderbringen, das Diabolische. Das griechische Wort diabolos heißt nämlich: der Durcheinanderbringer. Das Durcheinanderbringen ist eine sehr wichtige Funktion der Literatur, wenn man überhaupt von „Funktion“ sprechen will. Das ist etwas, was die Literatur gerne macht und was sie auch gerne machen dürfen soll.
SCHAU INS BLAU: Ist das Durcheinanderbringen nicht auch eine gute Absicht, die zu einem Schema führt: Ich muss immer Durcheinanderbringen?
STEN NADOLNY verschmitzt: Das ist keine so bekannte gute Absicht und deswegen fällt das nicht unter mein Verbot.
SCHAU INS BLAU: Wie schafft man es als Autor, diesen Diabolos zu spielen? Haben Sie Techniken, den Diabolos zuzulassen?
STEN NADOLNY: Das ist nicht mein Ziel, sondern so bin ich. Das ist meine liebe Art, dass ich „spinntisiere“ und mir verrückte Dinge ausdenke. Manche sagen auch vor der Niederschrift eines Buches: „Wer will das lesen?“ Oder: „So ein Schmarrn!“ Dies sind die ehrlichen Antworten, die ich dringend brauche, um mit dem Buch anzufangen, weil ich dann sage: So, jetzt zeige ich’s Euch. Das wird kein Schmarrn, sondern etwas, das amüsiert und gefangen nimmt und einen weiterbringt.
Wenn jemand vorher sagt, das wird nix, das ist unmöglich, dann lässt mich das besonders energisch in mein Unglück rennen. Dieses Buch schreibe ich dann bestimmt. Das mit dem ins Unglück rennen meine ich schon auch ernst, weil man aus Trotz ja nicht schreiben sollte. Wenn es denn nichts werden sollte, dann muss man es rechtzeitig merken, dass es doch tatsächlich nicht funktioniert. Solche Dinge sind mir auch schon unterlaufen.
SCHAU INS BLAU: Wie reagieren Sie auf Meinungen zu Ihren Büchern? Beeinflussen Sie Rezensionen stark?
STEN NADOLNY: Nein. Wenn das Buch geschrieben ist, dann steht irgendein neues an, dann interessiert mich die Rezension nicht, auch wenn sie sehr zutreffend oder kritisch war.
Ich schreibe Bücher ja nicht wie geschnitten Brot: ein Buch wie das andere. Das kann ich nicht, das schaffe ich nicht, ich ersterbe dann, das ist mir zu langweilig. Es gibt ja so Leute, die ein Erfolgsbuch geschrieben haben und dieses dann in vielen Variationen wiederholen. Meistens werden diese Leute auch ziemlich reich damit. Wenn ich Die Entdeckung der Langsamkeit nochmal schreiben würde, selbst wenn ich es versuchen würde, es würde mir zum Hals heraushängen.
SCHAU INS BLAU: Denken Sie beim Schreiben schon an den zukünftigen Leser oder ist das fatal, wenn man das macht?
STEN NADOLNY: Ich denke immer wieder an den Leser. Wenn mir beispielsweise jemand über den Weg läuft, der mich fasziniert, dann denke ich auch „Wie wird der diese Geschichte aufnehmen?“. Am nächsten Tag kann das jemand ganz anderes sein. Manchmal lese ich auch eine Rezension von einem Kritiker über ein ganz anderes Buch von einem Kollegen. Dann denke ich: „Hm, das ist ja merkwürdig, dass der das so verreißt. Wie würde der wohl das Ding, das ich gerade auf der Pfanne habe, verreißen?“. Das sind aber so Gedankennebel, die kurz mal durchs Hirn ziehen und dann sind sie wieder weg. Beim Schreiben ist das sofort wieder vergessen. Das Schreiben nährt sich nur davon, was mein Blick mir sagt, was ich mir vorstelle, was ich für eine Zielvorstellung habe. Diese ändert sich natürlich andauernd. Aber ich könnte zumindest nicht daran denken: „Wie wird das wohl meiner Mutter gefallen?“. Damit kann ich keinen Satz schreiben.
SCHAU INS BLAU: Einige Literaturratgebern plädieren dennoch stark dafür, den Leser schon bei der Textproduktion stärker im Sinn zu haben, oder zumindest eine potenzielle Zielgruppe.
STEN NADOLNY: Ich persönlich kann aus den Zielgruppen nicht so viel Honig saugen und mir würde es auch nie einfallen, ganz gezielt für eine Lesergruppe zu schreiben. Das wäre mir zu langweilig. Ich würde mir immer denken: „Soll ich jetzt für eine Zielgruppe, die nur dies und das versteht, das Leben, das ich beschreibe, passgenau einschränken?“ Und soll ich alles andere, was es sonst noch gibt, weil das irritiert sein könnten? Das mache ich nicht. Ich bin im wörtlichen Sinn ein Showmensch, also ein „Zeigemensch“. Ich will Leute, die etwas überhaupt nicht kennen für etwas gewinnen, was ich ganz toll finde. Am liebsten sind mir daher Reaktionen wie: „Mensch, da habe ich noch nie dran gedacht, das ist ja Wahnsinn!“ Das ist die Reaktion, die ich erleben möchte und nicht: „Ach, wunderbar, Sie sprechen mir aus der Seele, das denke ich seit 20 Jahren!“ Auf keinen Fall.
SCHAU INS BLAU: Reizt Sie diese Vorstellung, einem Leser nicht eben aus der Seele zu sprechen, sondern ihm etwas einzuflüstern – so wie Hermes in Ihrem Buch Ein Gott der Frechheit?
STEN NADOLNY: Ich denke jetzt nicht so richtig angestrengt daran, aber es wirkt sich aus, dass ich einmal Lehrer war. Als Lehrer war ich ein bisschen ein Schmuggler. Ich musste irgendetwas machen, was im Lehrplan stand, was man prüfen kann und das tat ich auch. Ab und zu aber wollte ich auch etwas schmuggeln, was die Schüler noch zusätzlich fasziniert. Das sind vor allem andere Welten, die Welten, die sie selber nicht kennen. Und die ich vielleicht noch nicht einmal selber kenne. Ich habe mich in der Schule als Geschichtslehrer am wohlsten gefühlt, wenn ich über das Mittelalter berichtet habe. Denn die ganze Welt des Glaubens von dem ja alles abhängt, die ist ja heutzutage sozusagen unbekannt. Kein Mensch versteht heute beispielsweise wirklich den Kniefall Heinrichs des IV. in Canossa, weil das aus einer ganz anderen Welt kommt. Das muss man den Leuten erklären, sodass sie es verstehen und ihnen dann aber auch zeigen, das das eine andere Welt war, in der die Menschen völlig anders lebten. Da darf dann auch ruhig ein kleines Alarmzeichen einstehen in den Schülern, Lesern, Zuhörern, was auch immer: „Es könnte sein, dass ich’s nie begreifen werde, weil es ganz fremd ist.“ Das ist das Schönste für mich, was es gibt.
SCHAU INS BLAU: Lesen Sie ihre Texte laut?
STEN NADOLNY: Nein, ich lese sie meiner Frau vor und ich lese sie auch tatsächlich gerne anderen vor, aber ich lese sie nicht mir selber laut vor, um irgendetwas damit zu erhärten oder herauszufinden. Ich bin völlig mit dem stummen Lesen bedient.
SCHAU INS BLAU: Haben Sie eine Stimme im Kopf beim Schreiben?
STEN NADOLNY: Nein. Das läuft offenbar irgendwie automatisch ab. Ich weiß, wie es klingt, wenn ich das schreibe, dazu muss ich es nicht hören. Ich wundere mich allerdings oft sehr, wenn es klingt, wenn andere Leute meine Texte laut lesen. Es ist für mich vollkommen selbstverständlich, dass es auf eine bestimmte Art gelesen werden muss. Ab und zu zeigt mir dann jemand anderes, dass man es auch anders lesen kann. Ich bin meistens nicht damit zufrieden, auch wenn das berühmte Sprecher oder Schauspieler machen.
Das Vorlesen lebt von den richtig gesetzten Pausen. Sie müssen nicht lang sein, aber sie müssen da sein, wo sie sein müssen und sie müssen lang genug sein. Wenn ein Schauspieler etwas liest, möchte er meistens beweisen, wie schnell er etwas lesen kann, wie eloquent er mit der Zunge ist. Dabei wird der Schauspieler ganz groß, weil er ja auch ein Sprachartist ist und der Text wird eigentlich ziemlich klein und unwichtig. Das habe ich schon ein paar Mal gemerkt. Und natürlich die Dramatisiererei: wenn jemand einen ganz normalen Satz, den man eher runterlesen muss als rauf, wenn der den irgendwie vorträgt als wäre er Stephan George und dabei noch ein „r“ rollt, dieses Bühnen-„r“, dann wird es mir ganz mulmig, weil ich denke: Nein, nein, so habe ich nicht geschrieben.
SCHAU INS BLAU: Glauben Sie, dass Literatur heute anders wahrgenommen wird oder einen anderen Stellenwert hat und wenn ja, wie hat sich das Dasein von Literatur verändert?
STEN NADOLNY: Man kann nicht mehr so unglaublich breit schreiben, die Leute haben weniger Geduld. Das Lesen ist auch nicht mehr so wie vor 100 Jahren. Ich meine, ich rede wirklich von einer lang vergangenen Vergangenheit. Die Leute sind nicht mehr so ans Lesen gewöhnt, das spielt keine so zentrale Rolle in ihrem Leben wie zum Beispiel für das Bürgertum um 1900 oder vielleicht auch noch um 1950. Man muss sozusagen die Leser, fast wie beim Fernsehen, daran hindern, wegzuzappen. Sehr breite, lange Einführungen in einen Roman, Einführungen des Helden zum Beispiel, die ich mir immer wieder leiste, da steigen die Ungeduldigen aus und sagen: „Mein Gott, das geht ja über Seiten.“. Natürlich (lacht), ein paar Seiten sind es dann schon. Die Literatur ist ja auch eine gewisse Zumutung, kostet Anstrengung und ein Einlassen auf manchmal recht verwickelte Gedankengänge und Dinge, die einem nicht sofort verkehrsampelartig klar sind – grün, rot, gelb. Wenn das weniger angenommen wird, wenn das ein bisschen ein Problem geworden ist, wenn die Dinge leichter konsumierbar werden oder sein müssen, klar ändert sich da etwas. Man muss schauen, dass man nicht der Versuchung erliegt, dementsprechend zu schreiben. Und dann gleich auf der ersten Seite ein Mord, bloß nicht auf der zweiten, weil es sein könnte, dass die gar nicht erst gelesen wird.
SCHAU INS BLAU: Glauben Sie nicht, dass das auch eine Verschiebung von Medien sein könnte? Also dass durchaus noch gleich viel gelesen wird, aber eher in Form von E‑Books oder im Internet, oder in Form von Blogs, anstatt eben in einem Papierbuch?
STEN NADOLNY: Es wird furchtbar viel gelesen auf dem Bildschirm, das ist klar. Das Internet besteht aus Lesen. Also wenn jemand mir ständig erzählt, dass Lesen bildet und mehr gelesen werden müsse, dann sage ich immer: „Es wird wahnsinnig viel gelesen.“ Aber was meinen Sie genau? Meinen Sie Dostojewski? Ja, den findet man vielleicht im Internet nicht so direkt. Ich habe auch nichts gegen E‑Books. Das E‑Book zwingt uns genau zu demselben Verhalten wie angesichts eines Papierbuches und da sehe ich jetzt keinen so großen Unterschied, man muss sich eben daran gewöhnen. Aber insgesamt wächst durch dieses schnelle mit der Maus Hin-und Herklicken eine andere Art von Gewohnheit. Man schaut die Google-News durch und dann hat man sozusagen das Lesen schnell erledigt, ist informiert und gewöhnt sich daran. Und dann hat man keine Lust mehr und sagt: „Mein Gott, in zehn Minuten schaffe ich so viel. Wenn ich vom Bildschirm wieder weggehe, dann habe ich alle Zeitungen gelesen, alles das, was mich interessiert. Was muss ich mir da jetzt ein Buch antun?“ Ich glaube nicht, dass die Leute das nebeneinanderher so lange machen können, also diesen Informationswahnsinn und daneben auch noch den Wahnsinn, dicke Romane zu lesen. Wozu kommt man denn dann sonst noch? (lacht)
SCHAU INS BLAU: Werden Sie manchmal vom Verlag eingeschränkt? Zum Beispiel durch einen Satz wie „Die Einleitung ist jetzt doch zu lang, das liest ja keiner mehr in dieser Art.“ Oder müssen Sie irgendwelche Vorgaben erfüllen?
STEN NADOLNY: Es kann schon sein, dass der Lektor so etwas von sich gibt. Aber dann mache ich ihm den Steinbrück (lacht). Das ist natürlich eine Frage, wie viel man sich da erlauben kann. Ich muss eigentlich nicht das machen, was ein Lektor mir sagt oder was ein Verlag mir sagt. Wenn ich einmal Nein gesagt habe, dann wird das eben nicht gemacht. Und dann bleibt die Einleitung so lang, wie sie ist. Das war bei meinem jüngsten Buch zum Beispiel so. Da wurde mir empfohlen: „Vielleicht könnte man das etwas weniger breit …“ und „Interessieren sich denn alle für das bayrische Ostufer des Chiemsees?“ Da habe ich gesagt: „Das ist mir ganz wurscht, ob die sich interessieren, das interessiert mich, basta!“ (lacht). Aber das können junge Autoren nicht. Als ich anfing mit dem ersten Buch, Netzkarte, da habe ich auch Kürzungsvorschläge befolgt. Ich war mir aber selbst nicht sicher, ob das etwas taugt und wenn der Lektor zusätzlich sagt, es taugt nicht, dann schwankt man schon.
SCHAU INS BLAU: Waren Sie sich denn nach Ihrem ersten Buch sicher, dass Sie das weitermachen wollen oder haben Sie schon früh daran gedacht, Autor zu sein? Ich habe nämlich den Eindruck, dass man jungen Leuten heute eher versucht zu vermitteln, dass sie doch auch darauf achten müssen, dass sie finanziell abgesichert sind. Natürlich kann man das eher mehr oder weniger auch mit eigenen Interessen verbinden. Aber ich denke, alles, was in den Bereich Autor, Journalismus fällt, wäre vielen Leuten womöglich auch einfach zu unsicher. Weil man eben nicht weiß, ob man genug Erfolg hat, um sich davon ernähren zu können.
STEN NADOLNY: Es ist sehr unsicher. Es ist sehr unsicher und wenn man sich nicht sozusagen mit suizidaler Verwegenheit sich der Sache nähert und total an seine Begabung glaubt, dann sollte man es lassen. Und andererseits gibt es einen Zusammenhang zwischen großer Begabung und dem Drang, das dann auch zu verwirklichen. Wer diese Begabung und den dazugehörigen Drang hat, wird sich nicht aufhalten lassen von der Frage, ob in diesem Beruf die Rentenansprüche besonders gut aussehen. Es interessiert ihn überhaupt nicht. Und das ist bei jungen Leuten speziell so. Also wenn ein junger Mensch sagt (verstellt die Stimme): „Nein, Schriftsteller möchte ich lieber nicht werden. Ich schreibe zwar gern, aber da weiß ich doch nicht, wie ich die nächste Miete am Ende des Monats bezahle.“ Dann soll er das um Gottes Willen lassen, dann würde ich sagen: „Du hast sowieso keine Chance, wenn du so anfängst.“ (lacht). Das ist eine Leidenschaftsgeschichte, ein Beruf ist das eh nicht. Das ist eine Berufung, also die berühmte alte Unterscheidung. (Pause) Hat etwas mit Feuer zu tun.
SCHAU INS BLAU: Ich suche gerade Orientierung in dem nicht mehr vorhandenen roten Faden.
STEN NADOLNY: Haben Sie wirklich gedacht, dass Sie einen roten Faden einhalten können? Ein Faden ist ja etwas, wo das nächste an das vorige genau anschließt und quasi eine Stollengräberei, ein Tunnelbau stattfindet, das ist nicht möglich im Gespräch, glaube ich.
SCHAU INS BLAU: Dann also etwas ganz anderes: Unsere Generation wird ja als Generation Y bezeichnet, deren Merkmal es unter anderem ist, ständig in Bewegung zu sein, die Orte zu wechseln. Einerseits wird das als Kennzeichen von Flexibilität gesehen, also positiv, andererseits aber auch als Zwang, da man vielleicht nicht selbstbestimmt ist und sich heutzutage den wirtschaftlichen Bedingungen unterordnen muss. Ihren Figuren reisen ja auch sehr viel und verändern sich und tun unterschiedliche Dinge. Haben Sie da auch an unsere Generation gedacht? Und sehen sie die Veränderungen als positiv, oder ist das eine Art von Fremdbestimmung?
STEN NADOLNY: Also erstens würde ich sagen, es ist positiv. Ich komme aus Generationen, die sich schwer taten, mit Veränderungen bei sich selbst und dem sich Auf-etwas-einstellen. Da war die Prinzipientreue und das Bei-der-Stange-bleiben und auch die Verlässlichkeit spielte eine große Rolle. Tut sie ja auch, ist ja alles wahr, ist ja alles gut, brauchen wir auch. Aber ohne jetzt an die jungen Leute speziell zu denken, war es für mich immer ein Desiderat (habe ich von meinem Vater übrigens, der hat mir das näher gebracht und das saß dann auch), dass man sich selbst nicht unbedingt kennt. Dass man sich manchmal zur eigenen Überraschung entpuppt. Wenn man darauf achtet, erlebt man das immer wieder, dass Leute, die vorherige Woche noch depressiv waren und nicht wussten, was sie im Leben sollen, in der nächsten Woche Feuer und Flamme sind – auch ohne, manisch depressiv zu sein. Sie wollen beispielsweise Ärztin werden oder so etwas und werden es dann auch. Ich habe rund um mich herum immer wieder dieses Phänomen erlebt, dass jemand sich entpuppt und es selbst nicht wusste, dass das in ihm steckt. Wir wissen auch gar nicht, zu welchen guten Sachen wir fähig sind. Das ist ja etwas, das zum Beispiel bei Katastrophen wie der Flut plötzlich eine riesige Rolle spielt. Plötzlich merken Leute, sie können hilfreich sein, sie können arbeiten bis zum Umfallen, sie sind belastbar. Das spielt übrigens auch in der Pubertät eine sehr starke Rolle, wo man sich noch gar nicht kennt. Und dann merkt man plötzlich: „Wow, das kann ich.“ Das sind erleuchtende Erlebnisse. Und deshalb, wahrscheinlich aus einer ewigen Pubertät heraus, ist mir das eine wichtige Sache, dass die Leute nicht glauben, sie wüssten schon, wie sie sind. Und vor allen Dingen auch nicht, dass sie es bei anderen schon immer glauben zu wissen. Also Thema Vorurteil, Thema Wahrnehmung. Es gibt ja so einen Türsteherblick, der von den Schuhen und vom Gebiss her sofort weiß, wie viel Geld jemand in der Tasche hat und ob man den hereinlassen kann oder nicht. Diese Art von Schemablick, das muss man immer wieder aufbrechen, sonst wird man ein Türsteher (lacht).
SCHAU INS BLAU: In der Generation Y ist es ja der Fall, dass das alles von außen kommt. Fehlt einem da nicht vielleicht auch der Mittelpunkt, der Ruhepunkt, der es einem möglich machen kann, sich selbst so gelassen zu sehen? Ich habe ganz oft den Eindruck, dass sich genau solche Menschen, die oft umherziehen oder sich neu anpassen müssen, auch unter Druck gesetzt fühlen und dadurch eben genau so eine Gelassenheit, mit der man sich dann selbst wahrnehmen können sollte, fehlt.
STEN NADOLNY: Ja, also diese Gelassenheit ist furchtbar wichtig. Sie müssen innehalten können. Sie müssen sich irgendwie den Raum, die Zeit klauen, zu sich selber zu finden. Und das ist jetzt keine besonders aufregende Sache. Sie müssen einfach mal nichts denken. Dösen, herumhängen, auf den Bus warten. Wenn man darauf wirklich sein Augenmerk richtet, dann lernt man das allmählich – auch in einem anstrengenden Beruf, der einen herumbeutelt. Zum Beispiel indem man aufs Klo geht und dort zu lange Zeit verbringt. Ich meine, irgendwie schafft man es, einmal das Gesicht hängen zu lassen und seinen Gedanken nachzuhängen. Ich kann das sehr gut, konnte das schon als Kind und immer: Einfach nichts tun und es unheimlich spannend finden, was für Gedanken mir kommen, was ich sehe. Deswegen sitze ich auch so gerne im Zug, nichts passiert außer, dass ich von A nach B fahre. Aber ich schaue aus dem Fenster und bin begeistert, was da immer wieder meine Netzhaut erreicht und was das wieder im Gehirn auslöst und woran ich mich erinnere – also wie so ein alter Hund, der sein Leben an sich vorüberziehen lässt, ich genieße das. Das kann man aber auch schon, ohne ein alter Hund zu sein, ein bisschen üben. Und dann hat man eine bestimmte Ruhe weg, weil man auch weiß, ich klaue mir demnächst wieder fünf Minuten. Man reagiert dann nicht mehr so panisch, wenn einem die anderen oder auf die Hacken treten. Und man ist nicht wie gehetzt ständig hinter irgendeinem Nutzen her, mit dem man die Zeit füllen muss, gemäß dieses Karriere-Imperativs: „Ich darf mir keine freie Zeit, keine dösige Zeit erlauben; ich muss, ich muss, ich muss.“ Das ist eine Fremdbestimmung, weil das einem irgendwelche Ratgeber oder die eigene Eltern, die ehrgeizig sind, einblasen. Man muss es sich erkämpfen, das ein bisschen zur Seite schieben und dann daraus Kraft zu schöpfen. Das ist eine Erholung, die nicht in Urlaub besteht, sondern jeden Tag minutenweise passiert.
SCHAU INS BLAU: Das finde ich interessant. Sie haben jetzt gesagt, man muss es sich erkämpfen und Sie haben ja auch von „klauen“ gesprochen. Ich habe nämlich auch den Eindruck, dass gerade jungen Leuten suggeriert wird: Man sollte es eigentlich nicht dürfen, man muss möglichst leistungsfähig, möglichst produktiv sein. Und jetzt sagen Sie aber gleichzeitig, es ist unheimlich wertvoll, um auch vielleicht persönlich zur Ruhe zu kommen oder eben nicht dieser Hetze verfallen zu sein. Ich glaube, dass es zunehmend schwerer wird, wirklich auf seinem Recht zu beharren, sich diese Zeit auch zu nehmen.
STEN NADOLNY: Es gibt solche Ratgeber, die einem zum Beispiel sagen: „Wie werde ich reich, erfolgreich und glücklich?“ und das bitte in spätestens sieben Jahren. Im Grunde ist die Botschaft (verstellt die Stimme): „Sei fanatisch, nutze dein Leben, jede Sekunde!“ Das endet meistens in Stundenplänen. Die fangen um 8 Uhr an und hören um 22 Uhr auf und da bleibt nichts ungenutzt und dann wird man ein Kraftwerk. Fehlt bloß irgendwie die sonstige Ähnlichkeit zum Kraftwerk, weil wir Menschen sind und es funktioniert auch nicht. Vielleicht werden wir sogar reich dabei, aber es funktioniert nicht, es endet doch in einer unseligen Unselbstständigkeit, weil man sich selber unter eine Knute begibt. Es passieren so wunderbare Dinge beim völlig ziellosen Nachdenken. Nur dann, wenn wir das tun, fällt uns auch wirklich etwas ein. Das wissen alle Erfinder. Natürlich sagt der eine so, der andere so. Ich erzähle Ihnen das und andere erzählen Ihnen, dass Sie sich zur Maschine machen sollen und zweifellos: Beides hat Ergebnisse. Da die Menschen verschieden sind, gibt es Leute, die vertragen das hervorragend, sich zum Apparat zu machen und andere, die scheitern furchtbar, weil sie viel schneller ausgebrannt sind und das nicht mehr machen können. Und sie merken auch, dass es sie ankotzt und wollen jemand anders sein. Diese berühmten Möchtergernaussteiger, die ganz tolle Investmentbanker geworden sind mit 33 und jetzt sagen „Uäh“ (lacht).
SCHAU INS BLAU: Sehen Sie die beiden Begriffe Macht und Sprache in engem Zusammenhang?
STEN NADOLNY: Macht und Sprache sind ein Begriffspaar, ich würde nicht sagen ein Gegensatzpaar, denn Sie können keine Macht ausüben ohne Sprache. Sie haben wenig zu sagen, wenn Sie von Macht gar nichts verstehen oder verstehen wollen. Ebenso wie ein Mensch das Verhalten eines anderen Menschen bestimmen kann. Das gehört sozusagen zum Leben. Wenn Sie beispielsweise jemandem etwas verkaufen wollen und ihn dazu bringen wollen sich für Ihr Angebot zu interessieren, dann versuchen Sie ihn zu beeinflussen und das tun Sie sehr stark mit Sprache. Insofern hat Sprache etwas zu tun mit der Macht die wir über andere ausüben können. Wir haben kaum ein anderes Mittel, außer wir greifen zur Gewalt und sagen: „Du tust das jetzt.“ Wenn wir das nicht anwenden wollen oder können, dann müssen wir den anderen sagen: „Du, es ist für dich viel besser, und für mich auch, wenn du das jetzt so machst.“
Erst wenn man Macht, Politik und Geist gegeneinanderstellt kommt der Gegensatz von Macht und Sprache zum Ausdruck. Es ist sehr beliebt, zu sagen: „Geist hat keine Macht und die Macht ist brutal und hört nicht auf den Geist.“ Dennoch sehe ich das nicht notwendigerweise als einen furchtbaren Gegensatz, sondern als einen Zusammenhang, indem die einen sich natürlich mehr auf die Entwicklung von Sprache konzentrieren und die anderen den Blick mehr auf die Interessen richten. Die Diplomatie zum Beispiel vereinigt beides, wenn sie gut ist. Und nicht umsonst umgeben sich zum Beispiel Politiker hin und wieder mit Schriftstellern, insbesondere die der SPD (von den anderen weiß ich es nicht so) und das sind dann manchmal ganz lustige Begegnungen.
SCHAU INS BLAU: Wie hängt die Politik mit dem Schriftstellertum für Sie zusammen?
STEN NADOLNY: Schriftsteller haben ja meistens keine Ahnung von Politik, oder jedenfalls nur das was sie so in der Zeitung an Leitartikeln lesen. Und Politiker haben meistens nicht so viel Ahnung von Literatur, aber sie lesen Romane. Dann hat man zunächst einmal das Gefühl: Mein Gott diese beiden Seiten haben sich ja nichts zu sagen – eigentlich. Was kann ich dem Steinmeier sagen zu der Frage, wie er die fürchterlichen Führungsschwierigkeiten in der SPD jetzt irgendwie wieder hinkriegt. Oder, wie er das Dilemma mit Europa und den Schulden und dem Sparen und dem Fluch des Sparens lösen soll. Da weiß ich nichts. Höchstens kann er mir das erklären, aber dann weiß ich immer noch nicht genau, ob ich es wirklich verstanden habe. Trotzdem gibt es bei den Politikern eine Sehnsucht nach Laientum, nach Naivität, nach dummen Fragen und nach dem Erkennen des Ausmaßes von Unkenntnis – da sind die Schriftsteller ideal. Ansonsten sind Politiker ja Experten – meistens – die alles zum einem Thema runterrattern können. Der Trittin ist der Schlimmste: Der legt die Platte auf und die läuft und die ist gut!
Die Schriftsteller haben die gute Eigenschaft, das zu sagen, was Sokrates gesagt hat: Ich weiß, dass ich nichts weiß… auszudrücken, dass sie mit der Stange im Nebel herumfahren, und dass sie nicht wirklich wissen, was man jetzt machen kann, das können die (außer Günter Grass, der kann das nicht, weil der weiß alles und der weiß alles auch besser). Sie können auch manchmal sagen: „Du ich hab keine Ahnung, wie ist denn das genau?“ Und dann versuchen sie sich zu erklären, wie das zusammenhängen könnte und dann sagt der Politiker: „Ach so… das denkst du. Nein, das nun gar nicht!“ Das ist eine fruchtbare Begegnung von interessierter Unkenntnis und Überkompetenz, Überbeherrschung der Materie.
SCHAU INS BLAU: Sie haben jetzt gesagt: Schriftsteller sind im Normalfall die Unwissenden. Damit engen Sie den Schriftstellerbegriff aber stark ein. Es gibt ja aber auch politische Schriftsteller.
STEN NADOLNY: Die sind weitaus weniger ahnungslos, das gebe ich zu (lacht).
SCHAU INS BLAU: Hängt mit dem Unwissen von Schriftstellern auch das Freisein von notwendigen Absichten zusammen? Oder anders gefragt: Ist für Sie Literatur notwendigerweise frei von guten Absichten? Das heißt, auch frei von politischen Ansprüchen?
STEN NADOLNY: Nein, das würde ich auf keinen Fall so sagen. Das wäre ja wirklich eine Anmaßung gegenüber guten politischen Schriftstellern, das tue ich nicht. Ich glaube, ich habe mich ein bisschen vergalloppiert, als ich die Begegnung „Politiker – Schriftsteller“ geschildert habe. Da habe ich ein bisschen mich selber geschildert und ich weiß, dass das anderen Schriftstellern, die mit einem Politiker sprechen, eventuell ganz anders geht.
Die Ahnungslosigkeit ist ja nur dann etwas wert, wenn man von ihr weiß. Wenn man sich selbst nicht für ahnungslos hält, obwohl man es ist, dann ist man ein schlechter politischer Schriftsteller – und die gibt es auch. Wer anderen ständig Vorschriften macht und natürlich vor allen Dingen andere ständig kritisiert, dass sie alles falsch machen, wenn man also in Wirklichkeit eine Rolle spielt und nicht unbedingt den Dingen auf den Grund gehen will, tut mir das manchmal richtig leid.
SCHAU INS BLAU: Hat sich der Einfluss von Literatur auf Politik oder auch auf die Normen, die in einer Gesellschaft vorrangig sind, verändert? Wenn ja, wie?
STEN NADOLNY: Er ist geringer geworden, weil die Literatur selbst weniger Einfluss hat. Das kann man auf jeden Fall sagen. Früher hatte die Literatur viele Funktionen, die heute andere Medien übernommen haben – Film, Fernsehen, Internet. Was gleich geblieben ist und was immer eine riesengroße Rolle spielt (die aber verkannt wird, weil man sie für selbstverständlich hält): Das persönliche Gespräch über den Zaun hinweg. Dieses ganz graswurzelartige, gegenseitige Kennenlernen und Kennen von Menschen und das Gespräch dieser Menschen, da redet niemand drüber, aber das ist wahnsinnig wichtig. Höchstens bei der Diskussion über das Phänomen Stammtisch wird das überhaupt mal erwähnt. Stammtisch ist ja, sagt man, etwas „ganz Übles“, „reaktionär bis dort hinaus“ – denkste, das stimmt überhaupt nicht mehr. Stammtische können etwas sehr Gutes sein. Sicher haben einige Vorurteile, aber dort können auch ganz neue Ideen eingebracht werden – das nur nebenbei.
Literatur im 19 Jahrhundert – was haben die großen Unterhaltungsschriftsteller und auch die großen politischen Schriftsteller bewirkt! Was hat ein Balzac, ohne das er wirken wollte, für eine Kenntnis der Gesellschaft vermittelt und er hielt der Gesellschaft einen Spiegel vor. Und was hat Dickens bewirkt, der ja nun stark auf den Emotionsknopf drückte und Erschütterungen auslöste; „Onkel Toms Hütte“, von Harriet Beecher Stowe, hat einen ganzen amerikanischen Bürgerkrieg befördert. Und so geht es weiter mit einer ungeheuren, wichtigen, bestimmenden Rolle der Literatur – nicht immer zum Guten, nicht immer zum Guten. Man soll mir nicht erzählen, Bücher machen die Welt besser, denkste! Angefangen bei „Mein Kampf“ gibt es eine riesengroße Kette an ideologischer, hasserfüllter, chauvinistischer Literatur. Und die hat auch ziemliche Wirkung gehabt, die hat sehr viel Mentalität befördert und gestärkt und hergestellt, die zu Kriegen führte. So ist es auch wieder nicht, dass da nur ständig zu trauern wäre. Ganz gut, dass diese Hassschriftsteller nicht mehr zum Zuge kommen, gar nicht mehr da sind.
SCHAU INS BLAU: Gibt es solche „Hassschriftsteller“ heute gar nicht mehr?
STEN NADOLNY: Nicht mehr so in dem Maße. Nein, wo haben wir denn noch wirklich Hetzliteratur? Jedenfalls im Westen kommt die nicht weit! Es gibt keine neonazistische Literatur, aus gutem Grund, meine ich. Die Öffentlichkeit würde das Zeug nicht anrühren. Das ist schon ein Fortschritt. Hassprediger gibt es vielleicht noch in irgendwelchen Moscheen-Hinterzimmern im Islam. Die berühmte Moschee in Hamburg, wo die Attentäter von New York zum Imam gegangen sind und von diesem auch tatsächlich indoktriniert worden sind zum Beispiel. Aber das sind Phänomene, die es in unserer Welt nicht mehr gibt – jedenfalls nicht mit Verlagen, die sind alle eingegangen. Es gibt, glaube ich, noch die Lanzer-Heftchen, aber die predigen auch keinen Hass, sondern die pflegen da so eine militaristische Nostalgie. Wer das liest… weiß nicht, ich habe noch keinen damit gesehen (lacht).
SCHAU INS BLAU: Sie sagten, Macht und Sprache ist für Sie kein Gegensatz, sondern im Gegenteil sind es zwei zusammenhängende Begriffe. Das eine kann auch ohne das andere nicht existieren?
STEN NADOLNY: Doch, doch, das kann es schon. Natürlich gibt es eine Macht, die völlig ohne Sprache existiert, oder jedenfalls mit einer fürchterlichen Sprache. Mit einer Sprache, die sich selbst entlarvt, das gibt es schon in Diktaturen. Die Welt der Macht und die Welt der Sprache sind dann gegensätzlich. Aber in einer Demokratie sind es zwei Seiten, zwei verschiedene Anhängsel, zwei verschiedene Teile eines Zusammenhangs.
SCHAU INS BLAU: Spüren Sie als Autor, der mit seiner Sprache lebt und von ihr und durch sie, spüren Sie eine besondere Art von Verantwortung – in Bezug auf diese Macht?
STEN NADOLNY: Ja, tue ich, ja! Es ist die Verantwortung, wahrhaftig zu sein. Auch wenn man lügt, dass sich die Balken biegen, was man ja als Schriftsteller, als Belletrist, tut. Keine falschen Gefühle zu behaupten, keine Manipulationen zu begehen, das ist die Verantwortung. Sauber zu sein, wenn man so will. Das ist nicht nur aus Verantwortungsgefühl notwendig, sondern weil es einem speiübel wird, wenn man von diesem Weg abweicht. Weil man sich selber dann zum Kotzen findet, genau das übrigens kann man auch Verantwortung nennen, ja. Das sind auch zwei Seiten einer Medaille: Wenn Sie Ihrer Verantwortung nicht genügen, obwohl Sie sie spüren, dass sie es sollten, dann wird Ihnen von sich selber übel.
SCHAU INS BLAU: Diese Verantwortung spüren aber nicht nur Autoren.…
STEN NADOLNY: Nein, in diesem Fall besteht wirklich kein so entscheidender Unterschied zwischen Autoren und sonstigen Menschen. (lacht)
SCHAU INS BLAU: Wie sehen Sie denn in diesem Zusammenhang diese Heftromane – im Bezug auf die Verantwortung? Es gibt ja abgesehen von Literatur, immer noch Heftromane, die auf eine ganz bestimmte Weise geschrieben sind, bei der A und B eine Liebesbeziehung haben und dann kommt C dazwischen und dann kommt wieder D, der C aushebelt und letztendlich werden A und B glücklich – für immer. Da wird den Menschen vorgemacht, wie Beziehungen funktionieren sollen – und das ja doch in Zeiten, in denen Beziehungen immer liberaler gesehen werden. Halten Sie das für verantwortlich?
STEN NADOLNY: (lacht) Wissen Sie, ich kann wirklich nicht sagen, dass ich ein Experte in diesen Heftchenromanen bin. Ich weiß gar nicht ganz genau was da drin steht – ich glaube die habe ich als Sechzehnjähriger zuletzt irgendwie angelesen und dann schon in die Ecke gefeuert, weil ich schon damals zu anspruchsvoll war. Die Simplifizierung und die Schematisierung haben mich gelangweilt.
Mein Gott, ich kann mir vorstellen, dass jemand so primitiv, sagen wir, so kaputt ist, dass er tatsächlich so schreibt. Ich kann es mir vorstellen – das ist dann tragisch. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass jemand so zynisch ist, dass er so schreibt. Dann würde man sagen, seine Verantwortung wäre eine andere: Wenn er überhaupt ein Schreibgerät in die Hand nehmen und schreiben kann und einen Satz an den Anderen fügen, dann soll er nicht lügen, über das was sich zwischen Menschen abspielt. Dann soll er vor allen Dingen nichts weglassen, nichts beschönigen und in rosa Tunke eintauchen. Ich würde sagen, da kann man ihm dann einen Vorwurf machen. Aber ich glaube, mit manchen Menschen muss man nur Mitleid haben. Vielleicht könnte ich mich besser in diese Autoren hineinversetzen, wenn ich mehr davon lesen würde. Gott im Himmel, mir wird jetzt schon schlecht (lacht).
SCHAU INS BLAU: Es gibt ja aber auch eine Menge so genannter literarischer Bücher, die Beziehungen sehr einfach und vielleicht falsch darstellen.
STEN NADOLNY: Simplifizierung ist für mich schon ein bisschen etwas kriminelles, das man als Autor nicht machen darf. Das passiert auch unter dem Einfluss guter Absichten. Ich habe schon von dem naiven, unschuldigen, fröhlichen Arbeiter gesprochen, der dann Opfer wird von bösen, bösen Menschen – die aber alle reich sind. Was diese Kitschromane ja machen ist, eine Ideologie predigen. Da soll etwas in unsere Köpfe gehämmert werden. Der Heimatroman oder der Heimatfilm macht dasselbe: Die Unschuld ist schön und ahnungslos und das Böse tritt herein und stiftet fürchterlichen Unfrieden. Und schon diese Dichotomie zwischen dem Bösen und dem Guten da. Diese ganzen Wild-West-Filme und die Krimis kommen ja gar nicht ohne dieses Schema aus. Deswegen kann ich keinen Krimi schreiben und deswegen kann ich diese „Gut und Böse“-Sachen nicht schreiben. Die verkaufen sich zwar noch gut, aber ich glaube nicht, dass Heftromane ein so großes Publikum haben… so etwas kann ich nicht, das ist mir zu langweilig, zu unvertretbar, zu… ja wie stehe ich denn da, wenn ich so etwas schreibe? Nicht auszudenken! (lacht)
Der deutsche Schriftsteller Sten Nadolny wurde 1942 in Zehdnick, im Landkreis Templin geboren. Seine Kindheit verbrachte er am Chiemsee. Die Eltern Burkhard und Isabella Nadolny sind ebenfalls Schriftsteller. Nadolnys erstes Buch Netzkarte erschien 1981. Mit dem zweite Buch Die Entdeckung der Langsamkeit gewann er den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ähnlich bekannt wurde sein Buch Ein Gott der Frechheit (1994). Nadolny wurde unter anderem mit dem Jakob-Wassermann-Literaturpreis (2004) und dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag (2012) ausgezeichnet. Im Jahr 2005 war er Mainzer Stadtschreiber. Das letzte Buch des Autors erschien 2012: Weitlings Sommerfrische.