Sinn und Gewalt der schweigenden Schrift
von Philipp Maier
I. “Wohin geht die Literatur?”[1]
“Eine erstaunliche Frage, gewiß; aber das Erstaunlichste an ihr ist, daß die Antwort, wenn es eine gibt, leicht in Worte zu fassen ist: Die Literatur geht auf sich selber zu, auf ihr eigentliches Wesen, das in ihrem Verschwinden besteht“ (Blanchot 1962, S. 265).
Wissen, Schreiben, Verschwinden, Stille, Schweigen: Das Gefüge der Moderne brachte eine eigentümliche Korrespondenz von Begriffen hervor, denen in einem klassisch gewordenen Wort von Michel Foucault die Verheißung innewohnt, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeressufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 1974, S. 462).
„All der schwere Sand hier ist Sprache, von Wind und Gezeiten abgelagert.“ (Joyce, S. 62)
Am Anfang vor sechsunddreißigtausend Jahren brachten die Menschen uns unverständliche Zeichen hervor. In den Höhlen von Lascaux trugen sie in schwarzen, orangenen, gelben und roten Tönen Farbe auf, ritzten Linien in das Gestein. Neben Wappen oder Mustern, deren Deutung nach all den Gezeiten Rätsel bleiben, sind in der Majestät von bis zu fünf Metern Tiere des Jungpaläolithikums dargestellt: Kühe, Pferde, Stiere, Bisons, Katzen, Nashörner, Rehe, Hirsche. Die Wesen überlagern sich, eine Dynamik ist ihnen eingeschrieben, deren Bewegung von dem Flackern der Öllampen verstärkt wird. Ein Arrangement, welches Georges Bataille zur Setzung führt: „Die Unordnung, die die Macht des Todes ankündigt“ (Bataille 1983, S. 122).
In einem Schacht in einem der hintersten Winkel der Höhle, welcher ihrerzeit nur durch Abseilen erreichbar war, befindet sich „eine der ersten bekannten Darstellungen des Menschen“ (Bataille 1983, S. 117). Ungleich der kunstvollen Tierwelt der Höhle ist dieses Menschlein stark reduziert, gar linkisch oder kindlich. Die Gliedmaßen liegen ausgestreckt. Das Strichmenschenlein scheint – das Wagnis der Deutung eingehend – sterbend oder verstorben zu sein. Anstelle eines Gesichts trägt die Figur als Haupt die Züge eines Vogelkopfs. Am Ende des Rumpfes zieht sich ein aufgerichtetes männliches Glied. Der fallende Mensch steht nicht singulär, er ist in das Arrangement einer Gruppe von Bildern eingebunden. Unterhalb ist ein Vogel auf einer Stange gezogen, seitlich befindet sich ein Bison: „Am Bison sträubt sich alles vor Wut: sein Schwanz ist aufgerichtet und seine Eingeweide entleeren sich in schweren Klumpen zwischen seinen Beinen“ (Bataille 1983, S. 110). Ein Speer durchbohrt ihn.
Wie immer wir den Eindruck dieser Zeichen deuten, wir müssen uns doch eingstehen, daß wir nichts wissen. Viele Spuren dieser ältesten Zeiten sind und bleiben wohl unerklärlich. Wir müssen uns dieses oft und sagen; umsomehr, als wir, die Stille der Höhle aufstörend, weiter als es anderswo möglich war, in die tiefste Vergangenheit vordringen; das müssen wir uns immer wieder sagen; wir müssen von dem Gefühle durchdrungen sein, daß wir, je unsicherer wir uns fühlen, nur umso tiefer in die Geheimnisse dieser für immer verschwunden Welt eindringen können. (Bataille 1983, S. 91)
Die Höhle bezeugt eine planende Tätigkeit. Farbpigmente wurden aufgelesen und angerührt, Haare zu Pinseln gebunden und Steine zur Gravur geschliffen. Das Vermögen eines zielgerichteten Handels wird aus den Malereien lesbar, ein Zweck wurde zur Ausführung gebracht. Diese Hervorbringung der Technologie kennzeichnet die anthropologische Differenz. Eine Differenz, die in unserer Gegenwart eine ungeheure Industrie zur Erniedrigung des Tieres legitimiert, zu deren Aufhebung eine große reflexive Anstrengung zirkuliert, doch welche die Tatsache eines Bruchs bekundet. Im Tiefenfall der Urzustandsfiktion nahm von den Pinseln in Lascaux eine kalkulierende Bewegung ihren Ausgang, deren Akzeleration eine intrikate Logistik und Infrastruktur herbeiführte. Zwischen den Höhlenmalereien und den Telegraphenmasten, der Vereinheitlichung der Zeit im Eisenbahnzeitalter (vgl. Schauer, S. 64–136)), der Zerstreuung der Satelliten im All und deren latenzlosen globalen Kommunikation zieht sich eine Kluft der Jahrtausende. Vilém Flusser bestimmt in seinen Überlegungen zur Zukunft: „[…] Merkmal des Fortschritts: Alles wird strukturell komplexer, um funktional einfacher zu werden“ (Flusser, S. 20). Dieser Fortschritt initiiert folgendes Postulat von Bataille in seiner Meditation Die innere Erfahrung: „Die Entwicklung der Intelligenz führt zu einer Austrocknung des Lebens, die rückwirkend die Intelligenz beschränkt hat“ (Bataille 2017, S. 21). Diese ernüchternde Einsicht begeistert Batailles Studie zu Lascaux:
Es mußte doch der damalige Mensch glauben oder fühlen, er zerstöre eine natürliche Ordnung durch die Einführung einer berechnenden Tätigkeit der Arbeit; es hatte die Menschheit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, ein schlechtes Gewissen gegenüber dieser berechnenden Haltung, die ihr zugleich eine wirkliche Macht verlieh. Es werden also hier magische Kräfte geahnt, die sich der interessierten, der wollenden Haltung direkt widersetzen. Seit Menschen denkbar sind, muß die Arbeit ein logisches Prinzip sein, das Ursache und Wirkung berechnet, anders als die angebliche „primitive” Mentalität, die man als „prälogisch” bezeichnet hat, während sie doch in Wirklichkeit, weil magisch oder religiös, postlogisch, genauer alogisch ist; dieser Menschen hat sich eine dunkle Angst bemächtigt, weil sie vernünftig und logisch handelten, weil sie gefühlt haben, daß die geistige Ordnung der Welt durch die künstliche der Arbeit gestört wurde, wie der Einbruch des Logischen das „Seiende“, das Ewige, das Nicht-Handelnde zerstört. (Bataille 1983, S. 121)
Die berechnende Tätigkeit der Arbeit stiftet die anthropologische Differenz, das Seiende wird in den Malereien bezeichnet und bezeugt gleichsam seine Zerstörung. In der Urzustandsfiktion von Batailles Geburt der Kunst ist dies die erste Entfremdung, welche die Differenz von Magie und Logik, Allheit und Fragmentation, Leben und Denken, Tier und Mensch als Geheimnis des Seins in Erscheinung treten lässt. Doch kennzeichnen die Malereien gleichsam eine Überschreitung jener Differenz. Die Arbeit der Jagd, des Sammelns und des Feuers ist die Arbeit zur Verzögerung des Todes, eine berechnende Tätigkeit, die dem Erhalt des Lebens dient und doch dieses mit seiner Austrocknung bedroht. Die Arbeit an der Kunst der Höhlen dient im Denken Batailles anderen Gefilden:
[…] die profane Tätigkeit ist das Mittel, dessen Ziel der geheiligte Augenblick ist; so war das Göttliche, von Urbeginn an, die tiefere Bedeutung des Menschlichen. Das magische Wollen ist das Verhalten eines Menschen, der im Göttlichen eine höhere Kraft und Wahrheit als in der tätigen Welt der Mittel sieht: dieser Mensch beugt sich einer überlegenen Macht, die nicht mit der Welt der Tätigkeit zusammenhängt, und deren Ausdruck er im Tiere sieht. (Bataille 1983, S. 127)
Die Unordnung der Komposition in der Höhle kündigt die Macht des Todes an. Der Umstand, dass die ersten Menschen sich, wenn nicht als stark reduziert, ohne Gesicht und im Verborgenen des Schachtes, nicht selbst zum Gegenstand machten, sondern die Tierwelt verewigten, steht für Bataille als „der stärkste Ausdruck ihres Menschentumes.“ Die Beugung vor der Macht des Todes des aufgerichteten Menschen wirkt der Austrocknung des berechnenden Lebens entgegen, indem die Zuwendung zum entstanden-zerstörten Transzendenten den geheiligten Augenblick einer tieferen Bedeutung des Menschlichen vergegenwärtigt.[2] Diese Geburt der Kunst ist die Überschreitung der Differenz durch die Ankündigung des Todes.
In der Zuwendung zur Spekulation deutet der ithyphallische Menschenstrich des Schachtes die Kraft des Lebens im Moment seines Todes an. Eine Kraft, welche das “sich bewegende Leben” dieser Malerei als Unordnung des Todes zum Ausdruck brachte, und so die Höhle als Gebärmutter inszenierte. Im Maß der Tiefe der Vergangenheit ist dieses menschliche Leben mit dem Erstrahlen eines Blitzes vergleichbar, welcher die Differenz markiert und gleichsam dessen Überschreitung einlöst:
Vielleicht ist Überschreitung so etwas wie der Blitz in der Nacht, der vom Grunde der Zeit dem, was sie verneint, ein dichtes und schwarzes Sein verleiht, es von innen heraus und von unten bis oben erleuchtet und dem er dennoch seine lebhafte Helligkeit, seine herzzerreißende und emporragende Einzigartigkeit verdankt. Er verliert sich in dem Raum, den sie in ihrer Souveränität bezeichnet, und verfällt schließlich in Schweigen, nachdem er dem Dunkel einen Namen gab. (Foucault 2001, S. 326)
Die Benennung des Dunkels ist das Ergebnis der Differenz, welche im bewegten Flackern des Feuers durch die Einritzungen und Auftragungen der Höhle zur Fixierung kam. Die Überschreitung der Nacht durch den Blitz und dessen Verschweigen lässt die Differenz, den Namen zurück und führt so „zu der kühnen Behauptung […], daß die Differenz, wesentlich, schreibt“ (Blanchot 2007, S. 71). Das schreibende Schweigen der Höhle ist der Gang zu sich selbst, auf das Wesen des Verschwindens und somit Antwort auf die erstaunliche Frage: Wohin geht die Literatur?
II. „Es war Erde in ihnen, und / sie gruben.“[3]
Durch den Gang in die Höhle kam die Behauptung zum Ereignis, dass in der Differenz die Schrift und im Überschreiten jener die Geburt der Kunst liegt. Diese Transgression kündigt den Tod an, ein Schweigen, das in seiner Reduktion das Wesen des Verschwindens bedeutet. Dieses Ereignis ist nicht unmittelbar, es liegt in einer Vergangenheit, deren Lebensrealität nicht rekonstruierbar ist. Die schweigende Schrift der Höhle findet sich als erster Teil in einer Anstrengung wieder, in einem Sammeln, Sortieren, Ordnen, welches als Archiv[4] benennbar ist. Das Archiv durchdringt eine Fülle, ein unendliches Murmeln, das Unvermögen es in Fassung zu bringen.
Die Entdeckung von Lascaux datiert sich auf 1940. Der Zufall brachte die Höhlen inmitten des Unmenschlichen des 20. Jahrhunderts hervor. Dieses Desaster bedingte eine große reflexive Anstrengung, welche versucht ist, die Ursachen für dieses Übel zur Einsicht zu bringen. Batailles Studie zu den Höhlen – aus Frustration über die „Austrocknung des Lebens“ – reiht sich in dieses Vorhaben ein. Es stiftet die Imagination einer ursprünglichen Zeit der Allheit, von der Entfremdung und Fragmentation ihren Ausgang nahm und die George Steiner folgend erklärt: „Wir suchen nach der verlorenen Quelle eines Zusammenhangs. Aus unserer ‚Entfremdung‘ – dieses Wort ist selbst eine komprimierte Metapher für ‚Fragmentation‘ – heraus streben wir nach Heimkehr“ (Steiner 1984, S. 29). Das Zeitalter des Desasters bedingt einen Bruch, welches das Vermögen des Archivs als Ort der Heimkehr in einen radikalen Zweifel stellt:
Nur wenige Kilometer entfernt von einigen der schönsten Museen, Bibliotheken, Konzertsälen verpestete Dachau die Luft. Männer, die bei Tag folterten, Kinder erhängten, lasen abends Rilke, hörten Schubert. Das ist ein ontologisches Rätsel, das Mysterium des zivilisierten ennui oder des Bösen, und es stellt für mich die Zukunft des Menschen überhaupt in Frage. Wenn die humanistischen Wissenschaften nichts zur Humanisierung beitragen, wenn derselbe Mensch Bach spielen und das Wilnaer Ghetto in Brand stecken kann, wo bleibt da die Zivilisation? Warum erziehen, warum lesen? Ist es möglich, daß im klassischen Humanismus selbst, in seiner Neigung zur Abstraktion und zum ästhetischen Werturteil, ein radikales Versagen angelegt ist? (Steiner 2014, S. 9f.).
Von der Tierwelt der Höhle, als der „stärkste Ausdruck ihres Menschentumes“, spannt sich ein ontologisches Rätsel zum verschwindenden Menschen aus Die Ordnung der Dinge[5]. Das Rätsel des Verschwindens artikuliert sich nicht nur in der schweigenden Schrift der Höhle, sondern ist Resultat des „radikalen Versagens“ eines Zeitalters, welches in seiner „Neigung zur Abstraktion“ ein Menschentum zur Zerstörung brachte. Die Verbindung zwischen den Imaginationen zur Höhle und den Tatsachen des Übels ist eine diffuse und in ihr wohl ein „radikales Versagen“ angelegt. Im Akt, das Leid der anderen zu referieren, liegt eine Machtausübung. Dieser Umstand verstärkt den Topos der Unaussprechlichkeit, welcher Auschwitz umgibt, und bekundet die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit eines kohärenten Denkens unter „den Bedingungen des absoluten Zusammenbruchs und im Zeitalter des Desasters“ (Poppenberg, S. 182).
Die erwähnte Akzeleration der Infrastruktur brachte auch eine Transformation des Bewusstseins durch die digitale Sphäre der neuen Medien hervor. Eine Sphäre, in die sich die Hoffnungen projizierten, dass die „innere Tatsache“ (Mann, S. 524) der Demokratie sich medial externalisieren lässt, doch welche in ihrer jungen Geschichte Jürgen Habermas konstatieren lässt: „Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute zumindest partiell von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt“ (Habermas, S. 45). Eine Zirkulation der Zerstreuung, Redundanz, Vereindeutigung, Repulsion, Aggression – die digitale Reproduktion führt zur Erosion des Archivs. Steiner antizipierte in seinem Essay Der Dichter und das Schweigen diesen Umstand: „Ich frage nur, ob sie nicht zu viel schreiben, ob die Fülle bedruckten Papiers, in der wir unsere tauben Ohren zuzustopfen suchen, an sich nicht schon eine Sinnzerstörung darstellt“ (Steiner 2014, S. 116). Und die Erzählerinnenstimme in Jean-Luc Godards Le Livre d’image spricht zitternd: „Erde verlassen, mit Buchstaben überladen, […] erstickend an Wissen und kaum ein Ohr zum Zuhören.“
Das sich zerstreuende Archiv, dieser mit Buchstaben und Bildern überladenen Welt, und das Desaster selbst, haben Sinnzerstörung zum Effekt, welches durch die Aufhebung etablierter Kohärenzformen das Vergessen nach sich ziehen kann. Eine Schrift des Desasters – ihrer Realitätskunde zum Trotz – bedingt die Zerrüttung des kommunikativen Rahmens: „Das Gedächtnis lebt und erhält sich in der Kommunikation; bricht es ab, bzw. verschwinden oder ändern sich die Bezugsrahmen der kommunizierten Wirklichkeit, ist Vergessen die Folge“ (Assmann, S. 37). Der Zusammenbruch des Menschlichen und die Zerstreuung, Sprengung und Beschleunigung des Archivs haben „verheerende Auswirkungen auf unser Erinnerungsvermögen, das heißt letztlich auf unsere Fähigkeit, gemeinsame Räume für kollektive Entscheidungen zu schaffen und die Erfahrung eines wahrhaft demokratischen Lebens zu machen“ (Mbembe, S. 224). Durch die menschheitsgeschichtliche Zäsur der neuen Medien bewahren die Archive immense Datensätze, doch bahnt sich ein Unvermögen an, aus diesen ein Gedächtnis auszubilden. Somit drängt sich die Frage nach den Auswirkungen auf das menschliche Bewusstsein und die Konstruktion des Selbst auf. Die Flut an Informationen und die gleichzeitige Erosion des Sinns führen zu einer paradoxen Situation, in der das Vergessen das Geschriebene überlagert. Maurice Blanchot reflektiert in der Schrift des Desasters:
Das Vergessen würde auslöschen, was nie geschrieben worden ist: eine Streichung, durch die das Nicht-Geschriebene eine Spur hinterlassen zu haben scheint, die es zu verwischen gälte, ein Gleiten, das sich einen Handelnden konstruiert, wodurch das subjektlose Er, glatt und nichtig, geleimt, übertüncht wird im gespaltenen Abgrund des schwindenden, simulierten Ichs, eine Imitation von nichts, das zum selbstgewissen Ich erstarrt, von dem aus alle Ordnung wiederkehrt. (Blanchot 2005, S. 107)
Das Paradoxon des Archivs, welches sowohl bewahrt als auch vergessen macht, steigert sich in dieser Reflexion von Blanchot zu einem schreibenden Vergessen, welches eine Spur hinterlässt und das Bemühen zur Tilgung dieser Spur erstarrt in einem „selbstgewissen Ich“. Das Vergessen verwischt nicht nur das Nicht-Geschriebene, es errichtet eine illusionäre Ordnung und wird so zur Grundlage einer neuen Selbstgewissheit. In der posttraditionellen Gesellschaft findet dieses Ich als fundamentalistisches Subjekt seinen Ausdruck. Der Fundamentalismus[6] konstruiert eine Tradition, erblickt in deren Lehrsätzen eine Wahrheit der Welt und ist somit nicht „an öffentlichen und dialogisch geführten Auseinandersetzungen über Ideen orientiert“ (Giddens, S. 23). Der fundamentalistische Bezug auf das Vergangene ist paradoxal ein Vergessen, das eine Illusion bedingt, die die Wiederkehr aller Ordnung bedeutet, auch die des Unheils.
Der schwere Sand von Archiv und Desaster kann in einem Vergessen resultieren, das schreibend als Imitation von Nichts zum selbstgewissen Ich erstarrt. Diese Sinnzerstörung und das Anschreiben gegen diese Illusion initiierten eine Vielzahl von poetologischen Strategien nach dem Zweiten Weltkrieg, exemplarisch bei Samuel Beckett.
Obgleich ich nicht recht sehe, wie ich von den Eigentümlichkeiten meiner Gegend sprechen kann, da ich sie nicht verlassen habe. Nein, ich bin niemals aus mir selbst herausgekommen, und nicht einmal von der Grenze meiner Gegend wußte ich das geringste, aber ich glaubte, sie seien ziemlich weit hinausgeschoben. Dieser Glaube konnte sich jedoch auf keine feste Grundlage stürzen, er war einfache ein Glaube. […] Denn soviel ich weiß, hörte eine Gegend nicht plötzlich auf, sondern geht allmählich in eine andere über. (Beckett, S. 79)
Die Wege der Figur Molloy im gleichnamigen Roman von Beckett verlieren sich im Diffusen. In einer Dynamik von Postulat und deren anschließender Negation wird jede Sinnkonstitution zerstreut und ins Unsichere überführt. Ein rezeptionsästhetisches Gefühl, welches auch Bataille in den Höhlen von Lascaux durchdringt: “je unsicherer wir uns fühlen, [können wir] nur umso tiefer in die Geheimnisse dieser für uns immer verschwundenen Welt eindringen“[7]. Eine fixierte Schrift, welche sich durch die Verweigerung einer etablierten Kohärenzform ins Unsichere verflüssigt. Günter Butzer kommentiert hierzu:
Diese paradoxe Bestimmung bildet das Fundament für die zunehmende Reflexivität der Texte, deren Leere wiederum auf die — als existentiell interpretierbare — Leere des Ausdrucks verweist. Selbstreflexivität und Selbstausdruck fungieren mithin bei Beckett nicht mehr als Medien der Selbstkonstitution, sondern offenbaren lediglich deren Unmöglichkeit. (Butzer, S.463)
Die strukturellen Bedingungen des sich beschleunigenden und globalisierten Archivs haben ein Vergessen zur Folge, welches nach Blanchot zur Illusion des selbstgewissen Ichs führt. Damit schließt sich Beckett an diese enigmatische Reflexion über den Zusammenbruch der Subjektivität an. Wolfgang Iser nuanciert in seiner Lesart von Molloy:
Indem er [Molloy] weitermacht, dokumentiert er, daß ihm die Unverfügbarkeit seines Grundes bewußt ist, denn im Zwang der Selbstreproduktion überschreitet er fortwährend die Begrenztheit der einzelnen Selbstwahrnehmungen. Wenn ihm diese durch die Darstellung zu Fiktionen werden, so qualifiziert er sie als Bewußtsein ohne Realität. Eine solche Qualifikation setzt voraus, daß er über eine Realität verfügt, die sich der Integration durch Darstellung entzieht. Das ist er selbst. (Iser, S. 266)
Die Unverfügbarkeit des Selbst, die Ambivalenz und Unsicherheit des Eigenen, resultiert bei Beckett in einem semantischen Exzess, der eine Grenzüberschreitung aus der Ordnung der Bedeutung ankündigt. Diese rhetorische Distanzierung von der Bedeutungskonstitution bestätigt – so die Behauptung – Bedeutung in einem Außen und bedient damit eine metaphysische Vorstellung. In dem materiellen semantischen Exzess liegt damit eine Reduktion, welche Molloy mit der schweigenden Schrift in der Höhle von Lascaux vergleichbar macht und so „die tiefere Bedeutung des Menschlichen“ in der Diktion von Bataille hervorbringt.
Denn vom Text kann man sich nur dadurch lösen, daß man den Wirbel der Sinnkonfigurationen auf eine abschließende Bestimmtheit zu bringen versucht. Wo das geschieht, entsteht Distanz, in der die Vieldeutigkeit eines Textes zur Eindeutigkeit der nun vermeintlich gewußten oder bloß gesetzten Bedeutung schrumpft. Diese Distanz gestattet zwar eine Betrachtung, faßt aber bestenfalls nur Möglichkeiten des Textes. So verspielt die Bestimmtheit des Verstehenwollens Möglichkeiten des Verstehens, doch erst das Verspielen solcher Möglichkeiten schärft das Bewußtsein für die Freiheit des Verstehens, die vor dem Urteil zur Verfügung stand. Indem uns aber eine solche Literatur zum Verspielen der Freiheit verleitet, entdeckt sie uns diese für das Leben. (Iser, S. 271)
„Von Schwelle zu Schwelle“[8]: Die Ruhe der Höhlen von Lascaux aufstörend wurde in ihnen versucht, eine Antwort auf die Frage nach dem Gang der Literatur zu finden. In der Reduktion auf Differenz und Überschreitung kam es zur „Geburt der Kunst“ als eine schweigende Schrift: die Ankündigung des Todes. Durch die Gegebenheiten der Bestialität des 20 Jahrhunderts und der Erosion des Archivs findet sich in der Literatur am Beispiel Becketts gleichsam eine Reduktion, als semantischer Exzess, welche Bedeutung an einen Nullpunkt führt und damit ein Außen differenziert. Die Differenz und – deren Fixierung – die Schrift bedingt Gewalt: das Identifizieren von Qualitäten, das Namennennen, die Unabdingbarkeit der Vereindeutigung oder mit Nietzsche: „das eben ist bewusst-werden: ein ganz actives Zurechtmachen“ (Nietzsche, S. 122). Der Übertritt der Höhlen in einen geheiligten Augenblick oder in das Außen jeder Bedeutungszuschreibung bei Beckett soll im Erratischen der hier ausgeführten und referierten Überlegungen schweigende Schrift genannt werden. Gewalt und Sinn liegen in dieser ästhetischen Praxis. Die Gewalt der Trennung und der Sinn einer Führung an ein unendlich-begrenztes. Differenz, Bedeutungskonstitution: Die Schrift verspielt Freiheit, in der schweigenden Schrift kündigt sich die Überschreitung an.
Als Teil der eigenen ist die fremde Stimme ebenso Zeugnis des Selbst wie die eigene, die ohne die fremde nicht zu haben ist. (Butzer, Soliloquium, S. 466)
Denn alles hängt zusammen, dank dem Wirken des Heiligen Geistes, sagt man. Und wenn ich diesen Umstand nicht an der gehörigen Stelle erwähnt habe, so liegt es daran, daß man nicht alles an der gehörigen Stelle erwähnen kann, sondern zwischen Dingen, die es nicht verdienen, erwähnt zu werden, und solchen, die es noch weniger verdienen, wählen muß. Denn wollte man alles erwähnen, so würde man nie damit zu Ende kommen, und nur darum handelt es sich, zu Ende zu kommen, zu Ende zu kommen. (Beckett, Molloy, S. 48.)
Der Gewalttätige hat Grund zu schweigen, er hat sein Abkommen mit dem Betrug. (Bataille, L’Erotisme, S. 209f.)[9]
O einer, o keiner, o niemand, o du:
Wohin gings, da’s nirgendhin ging?
O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
und am Finger erwacht uns der Ring.
(Celan, Die Niemandsrose, S. 211)
Reprise [10]
Anmerkungen
[1] Blanchot, Maurice: „Wohin geht die Literatur?“ In: Der Gesang der Sirenen. München: Ullstein, 1962. S. 265.
[2] Vgl. „Das Zeichen und die Göttlichkeit sind am gleichen Ort und zur gleichen Stunde geboren. Die Epoche des Zeichens ist ihrem Wesen nach theologisch. Sie wird möglicherweise nie enden.“ (Derrida 1996. S. 28.)
[3] Celan, Paul: „Die Niemandsrose“ [1963]. In: Gedichte. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975. S. 211.
[4]Vgl. „Anstatt zu sehen, wie im großen mythischen Buch der Geschichte sich Wörter aneinanderreihen, die vorher und woanders gebildete Gedanken in sichtbare Zeichen umsetzen, hat man in der Dichte der diskursiven Praktiken Systeme, die die Aussagen als Ereignisse (die ihre Bedingungen und ihre Erscheinungsgebiet haben) und Dinge (die ihre Verwendungsmöglichkeit und ihr Verwendungsfeld umfassen) einführen. All diese Aussagensystem (Ereignisse einerseits und Dinge andererseits) schlage ich vor, Archiv zu nennen.“ (Foucault 1981, S. 186f.)
[5] Vgl. „Die Endlichkeit, von der aus wir sind, denken und wissen, ist plötzlich vor uns als gleichzeitig reale und unmögliche Existenz, als Gedanke, den wir nicht denken können, als Gegenstand unserer Wissenschaft, der sich ihr aber immer entzieht.“ (Foucault 1974, S. 449.)
[6] Die Unsicherheit einer posttraditionalen Gesellschaft bedingt eine Sehnsucht nach der Stabilität eines definierten Wissens, einer Wahrheit der Welt, welche diese organisierbar und orientierbar macht und so zur Grundlage fundamentalistischer Denksysteme wird. Die Unsicherheit resultiert aus dem Reflexivwerden der Tradition in der globalisierten Welt und ist Blanchot zufolge auch ontologische Eigenschaft der Selbstkonstitution. Auch Günter Butzers Lektüre von Beckett, welche folgend referiert wird, bringt dies zur Einsicht. (Vgl. Giddens)
[7] Celan, Paul: „Von Schwelle zu Schwelle“ [1955]. In: Gedichte. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975. S. 79.
[8] zit. Deleuze, Gilles: „Sacher-Masoch und der Masochismus.“ In: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt am Main: Insel, 1980. S. 173.)
[9] Reprise: „Das unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen: an seinem Horizont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt stand – das bloße Rezitieren. […] Das Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, sondern im Ereignis seiner Wiederkehr.“ (Foucault 1991, S. 19f.)
Literaturverzeichnis
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck, 1999.
Bataille, Georges: L’Erotisme. Paris: Ed. De Minuit, 1957.
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Beckett, Samuel: Molloy [1951]. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975.
Blanchot, Maurice: „Wohin geht die Literatur?“ In: Der Gesang der Sirenen. München: Ullstein, 1962.
–, Die Schrift des Desasters. München: Wilhelm Fink, 2005.
–, „Nietzsche und die fragmentarische Schrift.“ In: Werner Hamacher (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2007.
Butzer, Günter: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. München: Wilhelm Fink, 2008.
Celan, Paul: „Von Schwelle zu Schwelle“ [1955]. In: Gedichte. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975.
–, „Die Niemandsrose“ [1963]. In: Gedichte. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975.
Deleuze, Gilles: „Sacher-Masoch und der Masochismus.“ In: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt am Main: Insel, 1980.
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Poppenberg, Gerhard und Weidemann, Heinrich: „Nachwort.“ In: Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters. München: Wilhelm Fink Verlag, 2005.
Schauer, Alexandra: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Berlin: Suhrkamp, 2023.
Steiner, George: „Das totale Fragment.“ In: Lucien Dällenbach, Christian Nibbrig (Hrsg.): Fragment und Totalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984.
–, „An den deutschen Leser.“ In: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Berlin: Suhrkamp, 2014.
–, „Der Dichter und das Schweigen.“ In: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Berlin: Suhrkamp, 2014.
Bild: Karl Plattner, Mutter und Kind, Radierung und Aquatinta, auf kräftigem Bütten. (Privatbesitz)