Das Performancekollektiv She She Pop erweitert Tanz um Momente ethischer Reflektion. Im Interview mit schauinsblau perspektivieren sie die Einblicke auf den dramatischen Körper.
Die Zuschauer beobachten sich gegenseitig, und die Blicke, die die vermeintlichen Zuschauer auf die PerformerInnen werfen, werden von diesen reflektiert, kehren sich dadurch um oder laufen ins Leere. Theater wird so, wie She She Pop konstatieren, zu einem „Probelauf”, zu einer „Teststrecke”, auf der kulturell codierte Spielregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens wie auch geschlechtliche Zuschreibungen und Normierungen vorgeführt und gleichzeitig hinterfragt werden. Gesprächstechniken und Gesellschaftssysteme werden ausprobiert, große Gesten einstudiert und wieder verworfen und nicht zuletzt Geschlechtsidentitäten dynamisiert. Alle Beteiligten bringen in diese (un)freiwillige Gemeinschaft im jeweiligen Augenblick des Aufeinandertreffens einen Teil ihrer selbst und somit ihrer eigenen Freiheit ein, wodurch diese künstliche Gemeinschaft zur ästhetischen Form wird. Die Zuschauer werden während eines Abends mit She She Pop permanent dazu aufgerufen, Entscheidungen zu treffen, für diese einzustehen und mit den Reaktionen darauf umzugehen. Genau wie das Ensemble spielen die Zuschauer eine (selbst-)darstellerische Rolle: Wie das Stück, die Instant-Biographien der PerformerInnen und der gesamte Abend sich entwickeln, ist demzufolge stets unterschiedlich und unvorhersagbar — die Zuschauer werden zum Schicksal und Risiko für die PerformerInnen. Gerade dieses fragile Konstrukt lässt im Moment der Begegnung dieser beiden ‘unkalkulierbaren Größen’ aber auch ein wechselseitiges Prinzip der Anerkennung und Verantwortung füreinander wirksam werden. Theater, hier verstanden als ästhetische Form, die einen neuen ethischen Anspruch in sich trägt fernab von der althergebrachten Idee einer ‚moralischen Anstalt’.
SCHAU INS BLAU: Gegenwart, was bedeutet das für Sie und Ihre Arbeit?
SHE SHE POP: Als PerformancekünstlerInnen betonen wir das Akute der Aufführungssituation. Auf der Bühne stellen wir uns eine Aufgabe und erfüllen sie Abend für Abend neu. So gesehen ähnelt unsere Situation eher der von TeilnehmerInnen einer Castingshow als der von RollendarstellerInnen: Zwar gehen wir vorbereitet auf die Bühne, doch müssen wir immer mit dem Zufall rechnen. Jedes Mal reagiert das Publikum unterschiedlich, gibt neue Antworten und stellt uns damit vor neue Herausforderungen. Es entsteht ein Handlungsablauf, der im Hier und Jetzt gelöst werden muss. Einen Dialog mit einem Mitglied des Publikums kann man nicht einstudieren.
SCHAU INS BLAU: Ihre Stücke haben also einen starken Bezug zur Momenthaftigkeit?
SHE SHE POP: Genau, es geht uns um die gemeinsame Anwesenheit von DarstellerInnen und ZuschauerInnen im Raum. Wir versuchen, einen Moment herzustellen, der ein Moment der Entscheidung ist. Beide Seiten, wir und das Publikum, teilen die gleiche Zeit. Alle befinden sich in derselben Situation, alle übernehmen Aufgaben. In klassischen Theaterstücken herrscht oft auf der Bühne eine andere Zeit als im Zuschauerraum. Wir dagegen fordern das Publikum auf, die Situation eins zu eins zu nehmen. Dabei soll es sich selbst auch als ZuschauerInnen begreifen. Das Publikum bildet in dem akuten Moment mit den DarstellerInnen eine Gemeinschaft — eine Zwangsgemeinschaft, aus der es kein allzu leichtes Entrinnen gibt. Man sieht sich gegenseitig in der Situation und erkennt sich an.
SCHAU INS BLAU: Oft kommt es einem vor, als wollten Sie die Zuschauer auffordern, sich selbst und Ihnen als Person zu begegnen. Erhoffen Sie sich davon einen kathartischen Effekt?
SHE SHE POP: Der Zuschauer wird stark mit sich selbst konfrontiert. Was soll er sagen, wenn er angesprochen wird? Er muss sich überlegen, warum er ja oder warum er nein sagt. Das Publikum wird von uns in eine Situation hineingeworfen, deren Regeln es sich erst erschließen muss. Gleichzeitig wählen wir als KünstlerInnen immer Situationen, die bereits stark kulturell geprägt sind. Erinnerungen und Erfahrungen sollen geweckt werden. Wir geben damit die Möglichkeit, sich in bekannten Szenen einmal ganz anders zu verhalten und etwas Neues auszuprobieren.
SCHAU INS BLAU: Bei She She Pop spielen sowohl die DarstellerInnen miteinander als auch die DarstellerInnen mit den ZuschauerInnen. Sehen Sie darin das Prinzip der multiplen Autorenschaft verwirklicht?
SHE SHE POP: Eigentlich hätten wir als KünstlerInnen die Freiheit, alles perfekt zu gestalten. Einen Teil dieser Freiheit geben wir zugunsten der ZuschauerInnen auf. Zusammen mit dem Publikum bilden wir stattdessen ein dilettierendes Kollektiv. Jeder nimmt darin seine die sich ihm bietenden Möglichkeiten wahr und gibt sein Bestes. Daraus kann nie eine so perfekte Welt entstehen, wie aus der Hand nur eines Regisseurs, der seine persönliche Perspektive durchsetzt. Viele sagen, Gleichberechtigung zwischen Publikum und Performancekünstlern auf der Bühne sei eine Illusion. Der Darsteller sei dem Zuschauer immer einen Schritt voraus und benutze ihn nur als Cue-Geber für geplante Aktionen. Die Gefahr besteht. Wenn man sie sich bewusst macht, dann lässt sie sich vermeiden. Oder man macht die in der Aufführungssituation herrschenden Machtverhältnisse sichtbar, das kann auch spannend sein. Wirklich unhierarchisch wird eine Aufführung nie sein, aber sie kann den Zuschauer diskursiv einbinden.
SCHAU INS BLAU: Welche Rolle kommt Ihnen als PerformancekünstlerInnen dabei zu?
SHE SHE POP: „In unserer Vorbereitung für eine Performance entwickeln wir eine bestimmte Fragestellung. Davon ausgehend entwickelt jedeR PerformerIn für sich einen Selbstentwurf bzw. ein Idealbild von sich selbst in einer bestimmten Situation. Damit konfrontieren wir die ZuschauerInnen. Im Zusammenspiel mit ihnen muss sich dieser Selbstentwurf Abend für Abend neu behaupten und an die akute Spielsituation angeglichen werden. Die ZuschauerInnen, die sich dazu verhalten, werden Teil von diesem Entwurf. Wir nennen das eine Instantbiographie. Letztlich werden die Figuren also über den Abend zusammen mit den ZuschauerInnen, unseren CoautorInnen, konstruiert. Unsere Aufgabe ist es, etwas mit all den neuen Zuschreibungen vor den Augen des Publikums zu machen.
SCHAU INS BLAU: Die ZuschauerInnen und Sie sehen sich gegenseitig. Unter Umständen ist das für beide Seiten unangenehm. Wollen Sie so die voyeuristischen Blicke, welche häufig auf Frauen ruhen, widerspiegeln?
SHE SHE POP: In einer unserer ersten Performances standen wir zu acht Frauen auf einem Laufsteg. Da wurde uns erst klar, dass vergleichende Blicke auf Frauen immer vorhanden sind, und wir haben begonnen, uns damit zu beschäftigen. Wenn wir jetzt den Raum für ein neues Stück entwerfen, spielen ungewöhnliche Blickkonstellationen und Perspektiven dabei eine große Rolle. In der konventionellen Theatersituation blickt der Zuschauer machtvoll auf die Bühne während sich der Schauspieler ausstellt. Wir versuchen, daraus etwas Neues entstehen zu lassen. Wir fragen uns dann, wie sich das umkehren lässt. Auch das Publikum soll aufeinander blicken. Einen rein konsumierenden Blick lassen wir nicht zu. Entweder wir werfen ihn zurück, oder wir verändern die ganze Situation.
SCHAU INS BLAU: Sie stellen oft sehr intime Glücksmomente und Rituale dar und machen sie damit öffentlich. Indem der Zuschauer diesen Momenten zusieht, entlarvt er sie. Wollen sie damit Melancholie erzeugen?
SHE SHE POP: Unsere Stücke enthalten einen Moment der Demaskierung, einen utopischen Moment des Zusammenkommens. So etwa am Ende von „Warum tanzt ihr nicht?”. Oft handeln sie von Glück, persönlichen Krisen oder von einer Idee, wie das Leben sein sollte. Wenn man all das sichtbar macht, erfährt man erst, was wirklich möglich ist. Wenn die Illusion jedoch nur als Illusion ausgestellt wird, bleibt es bei der Melancholie. Wir wollen die Grenzüberschreitungen offenlegen. Deshalb ist der akute Moment auch so wichtig: Er ermöglicht, sich verschieden zu verhalten.
SCHAU INS BLAU: Gegründet wurde She She Pop als reine Frauengruppe. Mittlerweile gehört auch ein Mann zum Ensemble. Befinden wir uns also schon im Postfeminismus?
SHE SHE POP: Den Geschlechterkampf haben wir noch lange nicht hinter uns gelassen. Die alten Machtfragen und finanziellen Fragen sind immer noch aktuell. Trotzdem haben sich die Frauengruppen aus den 60er und 70er Jahren, denen es um Ausschluss ging, überholt. Unser männliches Mitglied sagt selbst, dass er Teil einer Frauengruppe ist. Eine männliche Position in einem weiblich dominierten Kollektiv — für uns ist das eine feministische Position. Zu Beginn war es für alle, für ihn wie für uns, nicht leicht, ihn zu integrieren. Steht ein Mann mit mehreren Frauen auf der Bühne, konzentriert man sich leicht auf ihn und schaut, wie sich die Frauen zu ihm positionieren. So waren plötzlich (Geschlechter-)Klischees auf der Bühne, mit denen wir uns zuvor noch nicht auseinandersetzen mussten. Ob es sich um Kostüme oder die Interaktion mit den Kolleginnen oder mit dem Publikum handelt: Für ihn gelten immer andere Regeln.
SCHAU INS BLAU: Sie nehmen somit den Mann als Mann wahr und stellen ihn dementsprechend aus. Können wir von einer klaren homosexuellen Konstellation in der Gruppe ausgehen?
SHE SHE POP: Nein, überhaupt nicht. Zwar ist unser männliches Ensemblemitglied kein Crossdresser. Er bleibt sozusagen äußerlich intakt. Trotzdem weichen wir bestimmte Attribute auf.
SCHAU INS BLAU: Also das authentische Geschlecht, egal wie es aussieht?
SHE SHE POP: Je nach Konfrontation mit den ZuschauerInnen kann die eigene Position thematisiert und variiert werden. Je nachdem, wie der Abend verläuft wird eine unterschiedliche Geschichte erzählt. Das ändert zwar nicht viel am eigenen Geschlecht, es macht jedoch einen Unterschied, ob man am Ende der Ballinszenierung mit einem Mann, einer Frau oder allein zurückbleibt.
SCHAU INS BLAU: Ihr neues Stück „Familienalbum” handelt von der Familie als sinnstiftender Instanz. Folgen Sie damit dem Trend in der Kulturszene, sich auf existenzielle Themen zu konzentrieren?
SHE SHE POP: Als wir vor zwei Jahren mit der Konzeption begonnenen haben, wurde in den Medien die Akademikerinnendebatte geführt. Angeblich bekommen studierte Frauen in Deutschland ja zu wenige Kinder. Da wir uns von dem Thema selbst betroffen sahen, haben wir begonnen, uns damit auseinanderzusetzen. Auf diesem Weg beginnen die meisten Ideen: Wir finden einen gesellschaftlich geprägten Diskurs, der uns intuitiv anspricht und Wut erzeugt. Anschließend diskutieren wir dann die Fragestellung in der Gruppe, betrachten sie aus unterschiedlichen Perspektiven, sodass jeder etwas für sich daraus entwickeln kann. Die Frage nach Werten ist schließlich immer eine Verhandlung.