© Johannes Frericks
von Roman Matzke
Freunde zum Filmabend einladen? Eigentlich keine große Kunst. Kommt einem aber der Geistesblitz, das gewohnte Programm mit einem neunundneunzig Jahre alten Stummfilm aufzulockern, konkurrieren die Absagen in ihrer absurden Kreativität rasch mit Groucho Marx Einzeilern. Trotz genau solch einer Filmwahl musste sich Wolfgang M. Schmitt keine Sorgen machen, als er am 26.10. zum Kulturabend im Auditorium des G‑Gebäudes der Uni Augsburg einlud und mit Buster Keatons Sherlock Jr. (1924) den Saal füllte.
Charlie Chaplin, der mit seiner unsterblichen Figur des Tramps auch heute sofort noch Bilder in junge Köpfe ruft, hätte vielleicht auch ohne umrahmendes Programm Neugierige vor die Leinwand gelockt. Aber Keaton? Bei dem Namen kommen Studierende wohl am ehesten noch auf Diane Keaton und rufen sich Annie Hall vor Augen, an den sie als den ältesten Film ihrer Watchlist denken — Releasejahr 1977. In wie vielen studentischen Filmsammlungen sich heute aber Buster Keaton noch nennen darf, ließ die Zahl der gehobenen Hände erahnen, als Herr Schmitt fragte, wer denn bereits Sherlock Jr. gesehen habe (waren’s, wenn’s hoch kommt, fünf?).
Um so erfreulicher war es demnach, dass sich das Publikum auf dieses Meisterwerk der Filmkunst einlassen wollte. Man fühlte mit dem Schicksal des liebenswürdigen Träumers, bestaunte die präzisen Choreografien, schluckte bei den bis ins kleinste Detail perfektionierten Stunts – solche, die das Adjektiv ‚lebensgefährlich‘ beim Worte nahmen, wenn sich Buster beispielsweise ganz ohne CGI vom Hausdach an einer übergroßen Schranke in ein fahrendes Auto herabsenkte – und lachte freilich ausgiebig. Vierunvierzig Minuten dicht aufeinanderfolgende Dauerunterhaltung bot somit selbst der TikTok-Generation kaum Zeit, an das kostenlose Popcorn zu denken.
Dass die Gags des Great Stone Face also zündeten, stand außer Frage. Erwachsene Augen ließen sich vom Slapstick Humor verführen und wurden wieder ganz kindlich. Wim Wenders hatte diese Eigenschaft des Kinos schon so herzlich in Im Lauf der Zeit (1976) verewigt, als das primitive Lichtspiel die Schulklasse verzauberte; nun aber diese Wirkkraft an den Gesichtern der eigenen Kommilitonen abzulesen, war nochmal eine ganz andere Freude. Dennoch musste sich früher oder später gefragt werden, ob eine Auseinandersetzung mit der Filmkunst auf emotionaler Ebene stoppen sollte.
Wolfgang M. Schmitt war es in seiner Präsentation, die direkt an den Film anschloss, ein Anliegen, Sherlock Jr. mehr als nur kindliche Faszination abzugewinnen. Wie man darin, und eigentlich in so gut wie jedem erdenklichen Film – von Paw Patrol (2023) bis hin zum Arthouse Klassiker Außer Atem (1960) – sehen und nicht nur schauen kann, wurde in einer Mixtur aus ansteckender Kino-Liebe und bewundernswerter Fachkompetenz vermittelt, welche Herr Schmitt in nahezu druckfertigen Sätzen ausformulierte.
Diese geschliffene Artikulation – seit jeher fester Bestandteil der Filmanalyse — beeindruckte live noch mehr als auf dem heimischen Bildschirm, denn einen Teleprompter – den es übrigens auch bei den Videos nicht bedarf – suchte man vergebens. Solch eine durchweg fehlerfreie Satzbildung in ruhigem Ton war nach den teils äußerst niveaulosen Diskussionen um die an diesem Tag höchst aktuelle Gloryhole-Problematik der Universität eine wohltuende Abwechslung.
Auch auf Youtube verdient die Seh- und Sprechkraft Schmitts seit nunmehr zwölf Jahren die Bezeichnung ‚wohltuende Abwechslung‘, denn hier entzieht sich der Filmkritiker bewusst den schrillen Trends der Plattform. Kindlers Literaturlexikon und einer Gesamtausgabe von Karl Marx bilden den Hintergrund; eine grüne Bankerlampe schmückt den schlichten Tisch und Sekundärliteratur liegt griffbereit; daneben sitzt Herr Schmitt und spricht ideologiekritisch über Filme. Anzug und Krawatte sind Pflicht, genau wie eine durchschnittliche Rededauer von zwanzig Minuten. Ein Fall, der TikTok-propagierende Social Media Experten zur Verzweiflung bringen sollte. Über einhunderttausend Abonnenten beweisen jedoch, dass sich mit Authentizität auch heute noch erfolgreich gegen den Strom schwimmen lässt.
Wie ein Schritt durch den Bildschirm fühlte es sich an, als die Filmanalyse auf der Bühne dem Ablauf des Videos „Der Überraschungsfilm“ (gemeint war damit Sherlock Jr.) folgte. Glücklicherweise begann der Vortrag nach einigen Minuten, sich von dieser Analyse zu lösen, um breitgreifender über die Filmkunst zu sprechen. So sprang der Vortrag beispielsweise zur Bedeutung der popkulturellen Referenzen in Pretty Woman (1990), machte sich Gedanken zur post-postmodernen Reihung in Blade Runner 2049 (2017), oder stellte gewaltverherrlichende Publikumsfantasien in Inglorious Bastards (2009) in Frage. Auch wenn es so klingen mag, ein zusammenhangloses ‚Best-Of‘ war das nicht. Der Vergleich von Keatons Daueraction mit TikTok, wie er in der Analyse aufkam, wurde auch in der Form des Vortrags aufgegriffen, denn hier stießen sich zwar zahlreiche Filmtitel den Kopf an, trotzdem folgte alles einem übergeordneten Narrativ.
Die Diskussionen nach dem letzten Applaus bewiesen, dass diese Entscheidung goldrichtig war. Über den nächtlichen Campus verteilten sich kleine Gruppen, die diverse Themen des Vortrags aufgriffen und allem Erwähnten, von Verdis La Traviata bis hin zu den sehenswertesten Klassikern Hitchcocks, erneut Aufmerksamkeit schenkten. In einem Punkt waren sie sich mit Sicherheit alle einig: Beim baldigen Ansehen wird nicht nur geschaut, sondern gesehen.
Wer mehr über Wolfgang M. Schmitt erfahren möchte, darf auf Schauinsblau die Augen aufhalten. Ein Interview ist bereits in Planung.
Bild: Johannes Frericks, Film 1, 2023. Mit Genehmigung des Künstlers.