Ein Gespräch mit dem Musiker und Lyriker Michael Denhoff
von Jasmin Hentschel
Manche kennen ihn primär als Cellist und Komponist, andere hingegen haben bisher vor allem seine Dichtung wahrgenommen: Michael Denhoffs musikalische Werke sind weltweit bekannt für die ungewöhnlichen klanglichen Wege, die sie eröffnen. Auch seine Lyrik ist experimentell und steht in enger Interaktion mit der Musik. Da verwundert es nicht, dass er 1995 die Herausforderung annahm, eines der hermetischsten Gedichte des französischen Symbolismus, den berühmten Würfelwurf von Stéphane Mallarmé, in Musik zu verwandeln. Im Gespräch mit Schau ins Blau reflektiert Michael Denhoff über die Beschäftigung mit dem Zufall in Musik und Dichtung, welche sein Werk noch heute prägt und seinen Blick in den Himmel nachhaltig verändert hat. Darüber hinaus gibt er Einblicke in seine aktuellen Projekte.
SCHAU INS BLAU: Stéphane Mallarmés Un coup de dés… gruppiert und verstreut einzelne Wörter und Wortgruppen im Raum des weißen Blattes Papier. Davon sind einige hervorgehoben, manche fallen durch ihre Wiederholung auf. Herr Denhoff, die Quartette Ihres Mallarmé-Zyklus’ orientieren sich an einigen dieser Worte/Wortgruppen. Wie kamen Sie zu der Auswahl, die Sie für Ihre Quartette getroffen haben?
MICHAEL DEHNOFF: Die Auswahl geschah völlig intuitiv und ohne die Absicht, möglicherweise wichtige Wortgruppen zu berücksichtigen. Es waren vielmehr die Worte und Wörter, die sich in irgendeiner Weise nach der vielfachen Lektüre des Textes in meinem Hirn festgesetzt hatten, deren Rätselhaftigkeit ich mir in einer musikalischen Annäherung in gewisser Weise zu entschlüsseln erhoffte. Das weiße Papier scheint mir ganz wichtig, es ist der Raum, den diese verstreuten Wörter benötigen und den sie auch mit Sinn und Bedeutung füllen. Diese elf Doppelseiten sind wie eine Partitur, in der verschieden Stimmen in die weiße Stille hinein miteinander kommunizieren.
SCHAU INS BLAU: Un coup de des… bezieht seine Wirkung aus seiner Form. Die Schriftzeichen sind von unterschiedlicher Größe und Schriftart und stehen in unregelmäßigen Bezügen zueinander. Wie drücken Sie diese Wirkung mit den Mitteln der Musik aus?
MICHAEL DENHOFF: Es gibt auch zwischen den zwölf Quartetten unterirdische Verbindungslinien und musikalische Bezüge vielerlei Art. Manche Quartette sind ganz licht in ihrer kompositorischen Textur, andere hingegen dichter und komplexer. Bei Mallarmés Text ergeben sich teilweise fast vexatorische Elemente in der graphischen Verteilung. Auch in meiner Partitur könnte man solche Elemente erkennen. Dennoch bleibt wichtig: die Musik will keine akustische Bebilderung des Textes sein, sondern sie greift einzelne Konfigurationen heraus und versucht in dieser Form sezierenden Herantastens, dennoch das Ganze zu imaginieren.
Ausschnitt aus dem Quartett Nr. IV des Mallarmé-Zyklus von Michael Denhoff. (Foto: Michael Denhoff.)
Aus der Schrift wird Klang: das Quartett Nr. IV.
SCHAU INS BLAU: Welchen Raum gibt es für den Zufall in der Musik? In Ihrem Werk?
MICHAEL DENHOFF: Ich wünsche mir, dass vor einer zyklischen Aufführung der zwölf Quartette deren Anordnung symbolisch durch einen Würfelwurf ermittelt wird. Dabei gibt es den Würfelzahlen entsprechend sechs verschiedene Möglichkeiten. Somit wird der zyklische Spannungsbogen in den Instrumentalfarben und den Dichtegraden der zwölf Quartette jedes Mal ein anderer sein. Dies entspricht durchaus auch dem Lesevorgang, der bei Un coup de dés kein linearer sein kann. Das lesende Auge muss sich seinen Weg durch das Labyrinth der Wörter hin- und herspringen jedes Mal erneut suchen; ein Er-lesen im emphatischen Sinne! Übrigens sind die zwölf Quartette auch nicht in ihrer numerischen Folge entstanden, sondern eher dem Zufall folgend, wie sich die Klänge zu den einzelnen Wortgruppen einstellten. Bei der numerischen Anordnung tritt bei jedem Quartett ein Instrument (Musiker) ab und ein neues kommt hinzu, somit gibt es einen fließenden kreisförmigen Klangfarbwechsel.
SCHAU INS BLAU: Die Pointe des Würfelwurfs ist die Aussage: „Nichts wird stattgefunden haben als die Stätte, außer vielleicht eine Konstellation.“ Wie hat diese Aussage Ihre Komposition beeinflusst?
MICHAEL DENHOFF: Musik ist wohl die flüchtigste aller Künste, kaum erklungen entschwindet sie uns schon wieder. Und doch hat Klang stattgefunden, es bleibt uns nur eine vom inneren Ohr im Nachhinein wieder zusammengeführte und –gefügte Gestalt oder auch „Konstellation“, die aber bei jedem Hörer je nach Konzentration beim vorherigen Lauschen unterschiedlich und ganz individuell ausfällt. Insofern scheint mir Mallarmé hier sehr „musikalisch“ zu denken. Ich glaube allerdings, die zentrale Aussage ist die der typographisch größten Wörter, die über die elf Doppelseiten verteilt sind: „Auch ein Würfelwurf bringt den Zufall nicht zu Fall“ – eine scheinbare Paradoxie. Alles andere sind Seitengedanken und Parenthesen, die sich auf vielfältige Art und Weise auf diesen zentralen Satz beziehen. An anderer Stelle (in „Igitur“) schreibt Mallarmé, dass der Akt des Würfelwurfes seine eigene Idee vollbringt.
SCHAU INS BLAU: 1997 betonten Sie den Annäherungscharakter Ihres Mallarmé-Zyklus’ und dachten über einen ergänzenden Zyklus nach. Wie sehen Sie das heute?
MICHAEL DENHOFF: Noch immer besteht mein Wunsch, der „zyklischen Umkreisung“ in zwölf rein instrumentalen Annäherungen an diese grandiose Wort-Partitur nachträglich das eigentliche, bisher nur visionäre musikalische „Zentralgestirn“ zu geben, nämlich eine auch gesungene und instrumental größer besetzte „Ver-tonung“. Gleichwohl ist mit bewusst, dass es letztlich keine finale Auseinandersetzung mit diesem Text geben kann, seine Ränder bleiben offen, die möglichen Lesarten sind so vielfältig, dass ich vermutlich – hätte ich mittlerweile diese angedachte Vertonung komponiert – heute einen noch wieder anderen Weg durch diesen Text nehmen würde, wollte ich als Musiker erneut auf ihn zugehen.
SCHAU INS BLAU: Welche Nachwirkungen hat die Beschäftigung mit Mallarmé rückblickend für Sie? Haben Sie heute eine andere „Sicht“ auf den Himmel und die Gestirne?
MICHAEL DENHOFF: Wichtigste Nachwirkungen der eingehenden Beschäftigung mit Mallarmés Dichtung auf meine Musik scheinen mir zu sein, dass ich mittlerweile Mehrdeutigkeiten zulasse, verschiedene Gestalten von bedingt offenen Formen wähle und nicht zuletzt die Transparenz in den kompositorischen Texturen nachfolgender Werke. Mallarmés Texte – und insbesondere Un coup de dés – sind manchmal so rätselhaft in ihrer Erscheinung wie das unendliche Universum. Auch schon für den jungen Mallarmé selbst war Poesie etwas Geheimnisvolles, das man nicht erklären kann. Er beschrieb sie in seinem Artikel Hérésies artistiques. L’art pour tous als ein nur den Religionen vergleichbares Mysterium. Himmel und Gestirne kann ich mit astronomischem Wissen betrachten, aber doch neige auch ich dazu, nicht minder die poetische Sicht zu wählen und zu staunen, wenn ich beispielsweise bei sternenklarer Nacht in den Himmel schaue und die weite Stille um mich herum erlebe.
SCHAU INS BLAU: Nun haben wir noch eine einfache Frage für den Schluss: Wie klingt für Sie ein Schwarzes Loch?
MICHAEL DENHOFF: Wenn dies eine einfache Frage sein soll, frage ich mich, was wäre für Sie denn eine schwierige Frage? — Mit ganz bescheidenem Anspruch habe ich mir vor einigen Jahren zumindest einmal die Frage gestellt: Wie klingt ein Loch in der Musik?, denn zu dieser hatte mich ein befreundeter Bildhauer angeregt. Immer wieder hatte er sich in seinen Skulpturen dem Problem zu nähern versucht, wie mit bildhauerischen Mitteln ein Loch darzustellen wäre. Es kann ja nicht einfach nur eine Aussparung von Material oder in der Musik eine Pause im Erklingenden sein. Wir wissen und erfahren natürlich, z. B. beim Hören der großen Generalpausen in irgendeiner Bruckner-Symphonie, dass in dieser Pause nur scheinbare Stille herrscht, dass durch die kulminierende Steigerung zuvor dieses „Nichtklingen“ energetisch extrem aufgeladen ist und in dieser Pause, der Unterbrechung im musikalischen Fluss, nicht etwa nichts klingt, sondern vielmehr dieses Nichts klingt, und dabei möglicherweise noch intensiver tönt als das zuvor real Erklungene. Ja, vielleicht ahnte Bruckner, schon lange bevor wir von einem astronomischen Objekt mit dem Namen „Schwarzes Loch“ erfuhren, etwas von dessen extrem starker Gravitation … Seine Musik scheint es nahezulegen … Ich widmete im Jahr 2002 meinem Bildhauerfreund Wolfgang Ueberhorst ein Klavierstück (… al niente … op. 95), das aus sieben verschiedenen Gestalten entwickelt ist, die sich jeweils auf sieben verschiedene Arten verkürzend und nach und nach letztlich ganz verschwindend wiederholen: in klingendes Auslöschen, ein sich stets veränderndes Erinnern und Vergessen. Zurück bleibt das nachklingende Nichts, dem sich die Klänge immer mehr nähern… Das, was fehlt, das, was nicht mehr da ist, bleibt bei diesem Prozess des Verschwindens aber da, gewinnt eine imaginäre Materialität jenseits des reell Erklingenden. Es geht also auch um die Wahrnehmung beim Hören und Lauschen in diesem Stück, das in seiner sehr zurückgenommenen Außengestalt damit der Innengestalt neue Bedeutung und Inhalt zuspielt. Ansonsten fällt es mir schwer, den „Sound“ eines sogenannten „Schwarzen Loches“ zu imaginieren, er könnte ohnehin nicht von irdischer Klanglichkeit sein.
Michael Denhoff wurde 1955 in Ahaus (Westfalen) geboren. Er studierte bei Siegfried Palm und Erling Blöndal-Bengtsson Violoncello sowie bei Jürg Baur und Hans Werner Henze Komposition. Seit Mitte der 80er Jahre war und ist er in diversen Institutionen, wie z.B. an der Universität Mainz, dem Nationalen Konservatorium in Hanoi, der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf und Ensembles und Orchestern, wie dem Akademischen Orchester Bonn und dem Ludwig-Quartett, tätig. Michael Denhoff lässt sich in seinem musikalischen Werk immer wieder von Lyrik inspirieren und initiierte die musikalisch-literarische Reihe www.wortklangraum.de und ist zudem Mitherausgeber des Online-Journals www.haikuscope.de.