Emma Craigie im Interview
von Patrick Müller
Hitler ist eben nicht nur ein deutsches, sondern ein globales (Un)Kulturphänomen — er will grenzübergreifend erfasst, vielleicht gar erklärt werden. Dabei steht immer mehr im Vordergrund, sich allgemein dem Menschen Hitler zu nähern; das genuin deutsche Element rückt dabei mitunter in den Hintergrund. Jedoch: während sowohl Michael Butter als auch Stefan Hirt kürzlich unabhängig voneinander Hitlers Bedeutung für die nordamerikanische Kulturlandschaft gezeigt haben, fehlt eine solche Untersuchung für den angelsächsischen Raum. Dabei verdienten Texte wie Beryl Bainbridges Young Adolf, George Steinerskontroverse tour de force The Portage to San Cristóbal of A. H. oder A. N. Wilsons Winnie and Wolf deutlich mehr Aufmerksamkeit. Im Rahmen eines Seminars zum britischen Hitlerroman besuchte kürzlich die Schriftstellerin Emma Craigie Erlangen, um mit Dozierenden und Studierenden über ihren Roman Chocolate Cake with Hitler zu diskutieren. Vom Verlag in der Tradition von Judith Kerrs When Hitler Stole Pink Rabbit verortet und somit als Kinderbuch vermarktet, steht hinter Chocolate Cake with Hitler jedoch weit mehr: aus der Sicht der ältesten Tochter von Hitlers Propagandaminister, Helga Goebbels, die letzten Tage der Familie im Berliner Bunker schildernd, entfaltet der Text im Verbund mit Rückblicken in die Jahre vor dem endgültigen Untergang des Nazireiches enormen psychologischen Tiefgang. Chocolate Cake with Hitler ist demnach kein Hitlerroman im eigentlichen Sinne, der die Figur Hitlers und dessen Denken in den Vordergrund rückt. Gerade durch den Blick in die seelischen Abgründe einiger seiner Vertrauten entsteht ein nuanciertes Bild, das auch neue Perspektiven auf eine lange bloß dämonisierte, als entmenschlichte Verkörperung des Bösen angesehene Figur zulässt.
SCHAU INS BLAU: Mrs Craigie, wie entstand die Idee zu diesem ungewöhnlichen Projekt?
EMMA CRAIGIE: Auf verschlungenen Pfaden. 2006 veröffentlichte ich in der beliebten Who Was…-Reihe eine für Kinder gedachte Biographie Heinrich des Achten, die einigen Anklang fand. Anschließend erdachte ich zusammen mit dem Verlag den Plan, in eben dieser Reihe eine Biographie Adolf Hitlers zu veröffentlichen. Also begann ich, zu recherchieren und besorgte mir zahlreiche Bücher über Hitler, das Dritte Reich und den Holocaust. Je tiefer ich jedoch in die Materie eindrang, desto größer wurde meine Unsicherheit, wie ich das Projekt letztendlich angehen solle. Es schien, als wolle es mir einfach nicht gelingen, in dem sehr begrenzten Rahmen der Who Was…-Bücher eine der zugleich faszinierendsten wie auch abstoßendsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte zu porträtieren, zumal bereits eine beträchtliche Anzahl an Literatur für die Zielgruppe existiert. Schließlich kam ich an einen Punkt, da die Gewissheit in mir reifte, dass ich das Projekt entweder komplett abbrechen oder aber vollkommen anders gestalten müsse. Also ging ich in mich und suchte nach neuen Inspirationsquellen bis endlich, auch unter dem Eindruck des Films Der Untergang, die Idee entstand, eine Geschichte nicht für Kinder sondern aus der Sicht eines Kindes zu erzählen.
SCHAU INS BLAU: Ihr Verlag vermarktete Chocolate Cake with Hitler als Kinderbuch. Ist es das auch?
EMMA CRAIGIE: Ganz klar: Nein! Die Vermarktung war wohl der gerade geschilderten Entstehungsgeschichte des Textes geschuldet sowie einer gewissen Verunsicherung, in welche Kategorie Chocolate Cake with Hitler einzustufen sei. Letztendlich widmet sich der Roman Themen, deren Komplexität weit über die in einem Kinderbuch verhandelbaren Inhalte hinausgeht.
SCHAU INS BLAU: Was war der Auslöser für die Wahl dieser ungewöhnlichen Erzählperspektive?
EMMA CRAIGIE: Letztlich gab es drei verschiedene Gründe, aber hauptsächlich lag es daran, dass ich eine unmittelbare, sehr persönliche Verbindung mit Helga Goebbels empfand, als ich mit meinen Recherchen zu ihrer Person begann. Der offensichtlichste und banalste Grund dafür war zunächst folgender: Wie Helga bin ich die älteste Tochter in einer recht großen Familie (Anm. des Verfassers: Magda Goebbels brachte ihren Sohn Harald mit in ihre zweite Ehe). Ich erinnerte das Alter, in dem Helga schließlich in den Bunker ging, nämlich mit 12 Jahren, als besonders diffizile Zeit im Leben einer Heranwachsenden in dieser Ausgangslage — man ist weder Teil der Welt der jüngeren Geschwister, noch jener der Eltern. Außerdem näherte ich mich dem Projekt unter der Prämisse, einen nicht-fiktionalen Text zu verfassen, von denen es jedoch wie erwähnt bereits eine große Zahl gab, während mir die neue Herangehensweise frisch und unverbraucht erschien. Hitler ist eine derart dämonisierte Gestalt, dass mir besonders wichtig war, ihn als menschliches Wesen zu verstehen. Wenn wir ihn dämonisieren, fällt es uns leicht, zu argumentieren, wir selbst seien nicht im Ansatz so wie er. Diese Sichtweise ist insbesondere in England noch sehr weit verbreitet, da wir uns gerne als auf der Seite des “Guten” stehend stilisieren. Da war also diese als abgrundtief böse stilisierte Figur, von der wir uns vollkommen abkoppeln möchten, und gerade deswegen war die kindliche Perspektive für mich so interessant, da ein Kind immer zunächst das rein Menschliche wahrnimmt, sodass dies ein Weg war, Hitler als Menschen, als Person in den Mittelpunkt zu stellen. Der dritte Grund war eher technischer Natur: als Schriftsteller akzeptiert man deutliche Einschränkungen, wenn man sich auf die Perspektive eines einzelnen Charakters konzentriert. In diesem Buch erwies sich diese Konzentration jedoch als dienlich, da es sich gerade mit solchen Limitierungen beschäftigt. Schließlich handelt es davon, gefangen zu sein, und zwar nicht nur im wörtlichen Sinne in Hitlers Bunker, sondern auch im Kontext des Holocaust, für den die Frage der Perspektive ebenfalls von zentraler Bedeutung ist: wer wusste was wann, und natürlich besteht hier eine Verbindung zur allgemein eingeschränkten Erkenntnisfähigkeit von Individuen. Ich wollte in diese “Realität” eintauchen, um mich der Zeit, in der sich die Handlung des Buches vollzieht, nähern zu können. Daher entschied ich mich gegen einen allwissenden Erzähler, denn dies scheint, oder zumindest nehmen wir es so wahr, das Privileg der nachfolgenden Generationen zu sein, eben jene allumfassende Perspektive einnehmen zu können, und dies ist schließlich um ein Vielfaches angenehmer.
SCHAU INS BLAU: Wie näherten Sie sich schließlich der Figur Hitlers?
EMMA CRAIGIE: Hier waren es fotografische und filmische Quellen, die mich inspirierten. Ich war nicht so sehr an seiner Ideologie, sondern vielmehr an der Person interessiert. Hierfür studierte ich etwa seine extreme Körpersprache, und meine Leitfrage war dabei immer wieder: wie wirkte dieser Mann wohl auf Kinder? Ich las zudem Teile von Hitlers Tischgesprächen, um herauszufinden, wie er in nicht offiziellen Kontexten sprach und wie er sich gab. Es scheint, dass er Menschen nicht selten langweilte, und so schien es mir, als hätte die Kluft zwischen der privaten und der öffentlichen Person kaum größer sein können.
SCHAU INS BLAU: Der Roman wird von einigen Zitaten eingeleitet, von denen jenes aus Nicholas Stargardts Witnesses of War: Children’s Lives under the Nazis hervorsticht: “Die Erfahrungswelten von Kindern verdienen es, über ethnische und nationale Grenzen hinweg zur Kenntnis genommen zu werden, und zwar nicht aufgrund ihrer Ähnlichkeiten, sondern gerade weil die extremen Unterschiede uns dabei helfen, die soziale Ordnung der Nazis in ihrer Ganzheit wahrzunehmen. Weder waren Kinder bloß die stummen und traumatisierten Zeugen dieses Krieges, noch waren sie ausschließlich dessen unschuldige Opfer. Sie lebten auch in diesem Krieg, spielten und verliebten sich während des Krieges; der Krieg eroberte ihre Imagination, in der er auch gleichzeitig wütete” (Übersetzung PM). Sie sprachen bereits kurz über die Erfahrungswelt von Kindern — haben Sie auch in diese Richtung recherchiert, nachdem die Entscheidung für die Erzählperspektive gefallen war?
EMMA CRAIGIE: Zunächst las ich einige Biographien über Helgas Eltern Joseph und Magda. Meine Recherche zu den Kindern war erneut eher visueller Natur, da es kaum Literatur über sie gibt. Ich las die Memoiren Traudl Jungs sowie natürlich jene der Erzieherin der Goebbels-Kinder in den letzten Kriegsjahren, Petra Fohrmanns Die Kinder des Reichministers, aber abgesehen davon zog ich keine Literatur zu Rate. Es gibt eine Fülle fotografischer Quellen, die im Internet leicht zugänglich sind. Zudem sah ich mir die Filme an, die Goebbels von seinen Kindern drehen ließ. Natürlich ist all diesem Material eine propagandistische Dimension eingeschrieben, jedoch sind Kinder nicht so leicht zu kontrollieren, wie es in diesem Falle wohl angedacht war. Sie schauen also ständig umher und werden abgelenkt oder man sieht an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie unzufrieden waren. Bezüglich der Umstände, die im Bunker herrschten, wissen wir bekanntlich sehr genau, was etwa um welche Uhrzeit geschah, wer wann in den Bunker kam und so weiter. Es gab also mannigfaltige Informationen, die mir bei der Rekonstruktion der chronologischen Struktur halfen, aber bezüglich der Charaktere an sich hatte ich nur spärliche Informationen.
SCHAU INS BLAU: Die Struktur des Textes ist so angelegt, dass er sich nicht ausschließlich mit den zehn Tagen im Bunker beschäftigt, sondern auch vermittels Rückblenden psychologische Detailarbeit leistet. Kamen sie jemals an den Punkt, wo Ihnen auch dieses Projekt zu ambitioniert erschien?
EMMA CRAIGIE: Ja, und zwar in zweierlei Hinsicht. Interessanterweise konzentrierte ich mich in einem ersten Entwurf tatsächlich ausschließlich auf die Zeit im Bunker. Die Rückblenden existierten lediglich in Form einiger Erinnerungsfetzen Helgas, die später als Grundlage für die ausführlichen Erinnerungssequenzen dienten. Jedoch war diese Version des Textes unerträglich für mich, da eine derart klaustrophobische Atmosphäre herrschte, dass ich dachte: das hier will kein Mensch lesen.
SCHAU INS BLAU: Vielleicht orientierte sich diese Version Ihrer Auffassung nach auch ein wenig zu nah an ihrer Inspirationsquelle Der Untergang?
EMMA CRAIGIE: Exakt, wenn auch der Fokus ein anderer war. Zum Glück habe ich einen hervorragenden Korrekturleser und nachdem wir den Text diskutiert hatten, entschied ich mich, Helgas Erinnerungen mehr Raum zu gewähren und den Bunker zu verlassen. Das war eine große Erleichterung für mich, auch wenn man vielleicht der Meinung sein könnte, dass ich so der Klaustrophobie, die Helga im Bunker befallen haben mag, nicht mehr gerecht werde. Allerdings konnte ich so auch eine neue Dimension schaffen, da Helga 1932 geboren wurde und ihr Leben somit eng mit dem Aufstieg und Untergang der Nazis verbunden war. Außerdem hatte ich mitunter moralische Bedenken und Skrupel, etwa der Art: wie kann ich einen Text zu Ende bringen, an dessen Ende unweigerlich der Tod Helgas steht, und zwar ein Tod, der von den eigenen Eltern inszeniert wird? Ein schrecklicher Gedanke, der mich oft verfolgte.
SCHAU INS BLAU: Da Sie den historischen Aspekt selbst erwähnen: wie wichtig war Ihnen historische Genauigkeit, und inwiefern musste sich diese den psychologischen Einsichten des Romans unterwerfen?
EMMA CRAIGIE: Der Roman ist natürlich eng an historische Begebenheiten gebunden, zumindest nach bestem Wissen und Gewissen.Wie viele historische Romane, berufen sich einige der Episoden auf Geschehnisse in der Vergangenheit und füllen die leeren Stellen vermittels der Imagination. Aber dies ist nur ein Aspekt. Andere Textbausteine sind frei erfunden, insbesondere die meisten der Gesprächssituationen. Mein Erkenntnisinteresse lag jedoch darin, die große Frage zu ergründen, wie es sich anfühlt, einen Vater zu haben, der derartig abscheuliche Dinge tut, einen gleichzeitig jedoch liebt. Welche Art moralischer Integrität kann ein Kind unter diesen Umständen entwickeln? Die Psychologie stand also im Vordergrund. Angesichts der mir vorliegenden Informationen entwickelte sich schnell die Vorstellung einer psychologisierenden Erzählung über Helgas Leben. Da wäre zum Beispiel die auf dem Umschlag des Buches zu findende Fotografie: Helga sitzt neben Hitler, wendet sich aber deutlich von ihm ab, und zwar mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck. Ich spürte, dass sie ihn abstoßend fand, und es gibt andere Fotos, auf denen sie neben ihrem Vater stehend den Hitlergruß zeigt, aber offensichtlich nur, um dem Willen ihres Vaters zu entsprechen und ihn zufrieden zu stellen. Die furchtbare, sich aus den Autopsieberichten russischer Ärzte ergebende Vorstellung, dass Helga sich ihrer Ermordung körperlich widersetzte, kann als Chiffre für ihren Versuch gesehen werden, sich gegen die sie umgebende unsichtbare, überwältigende Macht zur Wehr zu setzen. Dies war ein anderer Aspekt, der mich zu diesem Projekt hinzog.
SCHAU INS BLAU: Ihr Buch ist mit einem ausführlichen Anhang ausgestattet, der Originaldokumente wie Briefe sowie Informationen zu den historischen Umständen und den einzelnen Charakteren enthält. Welche Absicht verfolgten Sie damit?
EMMA CRAIGIE: Die Frage, die sich mir stellte war: warum handelten Magda und Joseph Goebbels so, wie sie es taten? Was mich wirklich erstaunte, waren diese uns heutzutage zum Glück vorliegenden Briefe aus dem Bunker, in denen sie die Gründe ihres Handeln darlegen. Aufgrund meiner Erzählperspektive war es mir nicht möglich, diese Gründe zu erörtern, zumal die beiden ihre Kinder nachweislich täuschten, sodass diese dachten, der Krieg sei bald gewonnen und alles werde gut. Was mich wirklich faszinierte, war der offensichtliche Versuch, Ihr Handeln in moralischer Hinsicht nicht nur zu erklären, sondern auch zu rechtfertigen: alles dreht sich um Loyalität, darum, zu Deinen Idealen zu stehen. Der Umstand, dass diese offenbar psychisch schwer verwundeten (PM: im Original “incredibly damaged”) Menschen sich im Recht sahen, ja sogar glaubten, etwas Gutes zu tun, trieb mich um. Goebbels sah sich selbst voller Stolz als moralische Instanz, und ich fand, man sollte dies unbedingt herausstellen. Diese Diskrepanz zwischen eigener Wahrnehmung und der Wahrnehmung insbesondere der Nachwelt ist faszinierend.
SCHAU INS BLAU: Trotz Helga ist Magda Gobebels die wohl wichtigste Figur in ihrem Roman. Warum steht sie so sehr im Vordergrund?
EMMA CRAIGIE: Magda Goebbels hat mich wirklich fasziniert. Ich denke, es ist sehr interessant, sich mit ihr auseinander zu setzen und zu versuchen, ihr Wesen verstehen. Eine Aussage, gleichzeitig in Form einer Frage, mit der ich in Gesprächen über Chocolate Cake with Hitler immer wieder konfrontiert wurde, ist folgende: Ich kann nicht verstehen, wie eine Mutter so etwas tun kann. Als Reaktion darauf habe ich mich kundig gemacht und bin auf viele weitere Fälle gestoßen, in denen Eltern ihre Kinder töteten, und zwar weil sie dachten, deren Zukunft sei hoffnungslos. Das ist nicht so ungewöhnlich, wie wir vielleicht glauben. Im Rahmen meiner Recherchen stieß ich auf einen Aspekt, der mir auch auf Magda und Joseph Goebbels zuzutreffen scheint: solche Leute können ihre Kinder nicht als eigenständige, von ihnen getrennt zu betrachtende Individuen wahrnehmen. Wenn sie also denken, dass sie selbst keine Zukunft mehr haben, übertragen sie diese Wahrnehmung auf ihre Kinder. Und so gibt es immer wieder furchtbare Fälle, in denen etwa ein Vater angesichts großer finanzieller Probleme seine ganze Familie tötet. Ich führe dies nicht selten auf in der Kindheit erlittene Traumata zurück, und dies trifft für mein Dafürhalten in besonderem Maße auf Magda Goebbels zu. Gleichzeitig war sie mit einem außerordentlichen Selbsterhaltungstrieb ausgestattet. Die Art und Weise, wie sie trotz ihrer Herkunft Beziehungen mit mächtigen Männern eingehen und aufrecht erhalten konnte, ist vollkommen außergewöhnlich. Sie steht quasi als leuchtendes Beispiel für viele Menschen jener Zeit, die trotz oder gerade aufgrund zahlreicher psychischer Verletzungen erfolgreiche Überlebensstrategien entwickelten. Offenbar war dies auch eine Welt, die den Nährboden für solche “Karrieren” bereitete. Dabei fand ich es schwierig, eine Balance zwischen Verstehen und Entschuldigen zu finden. Um letzteres ging es mir mitnichten, sondern vielmehr darum, die Ursachen für ein solches Verhalten zu ergründen.
SCHAU INS BLAU: Trauma studies sind eine der momentan einflussreichsten Stränge in der anglo-amerikanischen Literaturtheorie. In Beryl Bainbridges Young Adolf erscheint der jugendliche Hitler selbst als von schweren Kindheitstraumata gezeichneter Charakter, und einige Studierende äußerten die Befürchtung, dass er dergestalt für seine späteren Taten zumindest teilweise entschuldigt werden könne. In ihrem Text finden sich zwei verschiedene Aspekte von Traumata: die persönlichen Traumata von Magda und Helga Goebbels, die sich vor dem Hintergrund des kollektiven Traumas des Holocaust entfalten. Ein Aspekt, der schon seit den Anfängen der Psychoanalyse in trauma studies immer wieder in den Vordergrund gerückt wird ist der, dass die Traumata nur dann wirklich verarbeitet werden können, wenn sie verbalisiert werden. Ihr Roman gibt den Sprachlosen eine Stimme, endet aber zwangsläufig in Totenstille…
EMMA CRAIGIE: Dieser sehr technische, theoretische Hintergrund war mir nicht bewusst. Wessen ich mir jedoch sehr wohl bewusst war, ist die Tatsache, dass ich mich im Kontext des größten europäischen Traumas des 20. Jahrhunderts bewegte — und dass Helga dieses in gewisser Weise repräsentiert. Als ich mit der Arbeit an meinem Roman begann, erschien John Boynes Der Junge im gestreiften Pyjama. Dieses Buch unterscheidet sich stark von meinem, da es sich in geringerem Maße auf historische Begebenheiten beruft. Es handelt sich um die Geschichte eines Jungen, dessen Vater nach Auschwitz abkommandiert wird, um dort aktiv an der Endlösung mitzuarbeiten. Was ich interessant fand, war der vergleichbare Ansatz: einen Text aus der Sicht eines Kindes zu schreiben. Ich denke, dies spiegelt eine Entwicklung im englischsprachigen Raum wider: wir, und damit meine ich die breite Öffentlichkeit, haben Hitler und die Nazis lange Zeit dämonisiert und verteufelt, und nun scheint es an der Zeit, die das Schwarz umgebenden Grautöne zu erforschen. Dass diese beiden Bücher in relativ kurzer Zeit erschienen zeigt mir: wir scheinen nun bereit, uns der Nazizeit aus anderer Perspektive zu nähern. Es geht um persönliche Schicksale, darum, was es für Familien bedeutete, Teil einer gigantischen Maschinerie zu sein. Wenn ich also Helga eine Stimme gebe, so ist dies ein Baustein dieses Annäherungsprozesses.
SCHAU INS BLAU: Sie erwähnen die Sicht der britischen Öffentlichkeit auf die Nazizeit. Wie wurde Ihr Roman aufgenommen?
EMMA CRAIGIE: Anders als Boynes Buch wurde Chocolate Cake with Hitler kein Bestseller, auch wenn der Roman für zwei Literaturpreise nominiert wurde (PM: für den Financial Times / Authors Club First Novel Award sowie die CILIP Carnegie Medal 2011) und es fünf Auflagen gab. Im Laufe der Zeit habe ich zudem zahlreiche Lesungen gehalten und wurde so mit einer Vielzahl persönlicher Reaktionen konfrontiert. Es war interessant zu sehen, dass ich auch Aufklärungsarbeit leistete, denn etwa die Hälfte meiner Leser war sich des Schicksals der Goebbels-Kinder nicht bewusst. Allgemein waren die Reaktionen nur sporadisch negativ. Ein jüdischer Freund etwa fragte mich, als er von dem Projekt hörte, wie ich bloß an einem solchen Thema arbeiten könne — und genau diese Reaktion erwartete ich auch im Feuilleton, als der Text dann erschien. Jedoch scheint es, wie erwähnt, nunmehr eine Tendenz in meiner Heimat zu geben, die Nazizeit in nuancierter Weise verstehen zu wollen. Das kam mir sicherlich zugute.
SCHAU INS BLAU: Sie haben für Ihr Buch nicht in Deutschland recherchiert — nachdem Sie nun in einer Stadt wie Nürnberg, mit ihrem gewaltigen historischen Erbe, nicht zuletzt auch einige der zeitgeschichtlich relevanten Orte erlebt haben: sehen Sie Ihren Roman nun vielleicht in einem anderen Licht als zuvor?
EMMA CRAIGIE: Es war eigentlich ungeheuerlich, dass gerade ich dieses Buch schrieb. Es war damals geradezu ein innerer Zwang für mich, dies zu tun. Heute denke ich, dass ich, wäre ich damals nach Deutschland gekommen, das Projekt mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgegeben hätte. Ich wurde von dem Fakt, Deutschland nicht besucht zu haben, gewissermaßen davor bewahrt. Letztlich jedoch handelt der Roman von Menschen, und so verhandelt er Themen, die nationale Grenzen bei weitem sprengen.
SCHAU INS BLAU: Inwiefern beeinflusste es Ihre Arbeitsweise, einen Roman in englischer Sprache zu verfassen, dessen Charaktere dieser Sprache meist nicht einmal mächtig waren?
EMMA CRAIGIE: Ich arbeitete mit einem Übersetzer zusammen, was sich als äußerst hilfreich erwies, denn ansonsten hätte ich nicht wirklich an dem Buch arbeiten können. Es gab dann doch einige Quellen, die nicht in englischer Sprache zugänglich waren. In sprachlicher Hinsicht fokussierte ich mich auf den “sächsischen” Anteil in unserer Sprache, versuchte also, dem Deutschen zumindest annähernd zu entsprechen. Daher wäre es wirklich sehr interessant, eine deutsche Übersetzung zu haben.
Der genuin transkulturelle Ansatz Emma Craigies könnte dann dazu beitragen, uns Deutschen zu zeigen, wie sehr wir beim Verstehen unserer Vergangenheit auf externe Impulse angewiesen sind.